INTERVIEW#1 MIT DER MIGRANTIFA HESSEN
In einer Interviewreihe ab Mai 2020 stellen wir euch kurz (post)migrantische Selbstorganisationen vor, mit denen uns politische Arbeitsansätze, Inhalte und Ziele verbinden. Wir haben festgestellt, dass die verschiedenen lokalen Netzwerke und Initiativen oftmals nichts voneinander wissen. Diese Reihe ist ein kleiner Beitrag zur Sichtbarmachung der (post)migrantischen Vielfalt.
1. Wie lange gibt es euch schon und was war der Anlass für eure Gründung? Bezieht ihr euch dabei konzeptuell auch auf Antifa Gençlik1
Migrantifa Hessen gibt es seit fast vier Monaten. Anlass unserer Gründung waren die schrecklichen Morde an neun jungen Menschen mit Migrationshintergrund in zwei Shisha-Bars in Hanau. Wir sind der Impuls, der aus diesen Anschlägen hervorgegangen ist, um die Erinnerung an diese Menschen wach zu halten, weshalb wir den 19. eines jeden Monats zum Gedenk- und Kampftag gegen Rassismus erklärt haben. Nach den Anschlägen fanden wir es vor allem wichtig, dass die von Rassismus Betroffenen eine Stimme erhalten.
Wir sind daher eine Initiative getragen von jungen Migranten und Migrantinnen mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln, Religionen und Weltanschauungen, die allesamt in der Nähe von Hanau leben. Migrantifa Hessen ist bestrebt, unterschiedliche Menschen abbilden zu können, die von verschiedenen Diskriminierungsformen betroffen sind, damit diese endlich gehört werden. In unserem Kampf gegen Rassismus beziehen wir uns auch auf die Kämpfe anderer marginalisierter Menschen, die bereits vor unserer Gründung ausgetragen wurden, so auch auf Antifa Gençlik. An Antifa Gençlik schätzen wir besonders, dass sie viele Migranten und Migrantinnen aus ärmeren Vierteln mobilisieren konnten. Dies wollen wir auch tun. Wir wollen insbesondere Menschen für uns gewinnen, die keinem akademischen Umfeld entstammen und die sich bisher noch nie politisch engagiert haben. Antifa Gençlik hat im Nachhinein jedoch bereut, diesen Menschen keine sozialen Perspektiven aufgezeigt zu haben. Dies wollen wir anders machen. Wir wollen unseren Kampf gegen Rassismus eng mit der sozialen Frage verknüpfen, weswegen wir auch Kapitalismuskritik ausüben.
2. Was ist die größte Herausforderung bei eurer Arbeit?
Unsere größte Herausforderung besteht tatsächlich darin, dass wir noch eine sehr junge Gruppierung sind. Uns gibt es noch nicht so lange. Daher investieren wir noch viel Zeit, um gute organisatorische Strukturen zu entwickeln. Aber wir sind auf einem guten Weg dorthin. Um unsere Kapazitäten zu erweitern, streben wir zudem Bündnisse und Partnerschaften mit anderen anti-rassistischen und migrantischen Initiativen an. Wir begreifen daher Migrantifa gleichzeitig neben der Rolle als Politgruppe auch als ein großes Bündnis, unter dem sich viele migrantische Antifaschisten und Antifaschistinnen, die bereits in anderen Kontexten politisch aktiv sind, miteinander vernetzen und arbeiten können.
3. Wie würdet ihr Widerstand im Alltag gegen Rassismus definieren und woraus zieht ihr eure Inspiration und Kraft dafür?
Unser Widerstand ist sehr vom intersektionalen Gedanken gekennzeichnet, da Migranten und Migrantinnen unter Mehrfachdiskriminierung leiden. Indem wir gegen Rassismus und Faschismus kämpfen, kämpfen wir auch gleichzeitig gegen Patriarchat, Klimawandel, Kapitalismus und Imperialismus. Migrantifa Hessen ist auch Teil des bundesweiten Migrantifa Kollektives, weswegen wir auch bestrebt sind, unseren Kampf nicht allein regional zu führen, sondern koordiniert innerhalb der gesamten Bundesrepublik gemeinsam mit anderen migrantisch-antifaschistischen Gruppierungen. Ein Beispiel für diese Form des Aktivismus stellt etwa der 08. Mai dar. An diesem Tag beteiligten wir uns am bundesweiten Generalstreik, zu dem migrantische Selbstorganisationen aufgerufen hatten. Wir haben zusammen mit anderen Aktivisten und Aktivistinnen unter Einhaltung der Hygiene-Vorschriften eine Kundgebung an der Alten Oper in Frankfurt abgehalten und konnten viele Spenden für die Familien des Hanau Anschlages eintreiben. Die Veranstaltung war ziemlich emotional für uns. Wir gaben Angehörigen der Opfer aus Hanau und Rassismus-Betroffenen die Möglichkeit, ihre Gefühle zu äußern. Auch war der Tag ziemlich inspirierend für uns, da in ganz Deutschland verschiedene Migrantifa Gruppen auf die Straße gingen und dabei ziemlich kreativ waren. Seit diesem Tag wissen wir, dass Migrantifa nun offiziell eine bundesweite Bewegung ist und dies ist etwas, aus dem wir Kraft und viel Inspiration ziehen.
4. Wie hat sich euer Leben seit dem Beginn der medialen Berichtserstattung zu Corona verändert?
Die mediale Berichterstattung über den Covid-19 Virus hat leider dazu geführt, dass andere wichtige Themen wie Rassismus untergehen. Dabei hat der gesellschaftliche Rassismus unter der Corona-Krise stark zugenommen. Anti-Asiatischer Rassismus, die Aussagen einiger französischer Wissenschaftler, Afrika zu einem Testlabor für einen Impfstoff machen zu wollen, die Lage von Flüchtlingen auf Moria, der Mord an Arkan Hussein Khalaf in Celle, Brandanschläge auf migrantische Supermärkte in Bayern, Racial Profiling und Polizeigewalt – tagtäglich häufen sich rassistische Vorfälle in Deutschland und auf der gesamten Welt, jedoch schweigen die großen Medienhäuser dazu. Dies erschwert unser politisches Engagement, Menschen für Rassismus zu sensibilisieren.
Gleichzeitig trifft uns die Krise auch sehr persönlich. Die gesellschaftliche Isolation wirkt sich bei uns allen negativ auf unser seelisches Wohlbefinden aus. Wir schauen daher immer, wie wir in dieser schwierigen Zeit füreinander da sein können. Uns ist es immer von Anfang an wichtig gewesen, dass sich jeder bei uns wohlfühlen kann. Denn Empowerment ist von großer Bedeutung für die eigene politische Arbeit.
5. Welche Form der Unterstützung wünscht ihr euch von anderen (post)migrantischen Organisationen?
In erster Linie ist eine gemeinsame Kommunikation mitsamt Vernetzung eine hohe Priorität, damit wir auch klar als Anti-Rassisten und Anti-Rassistinnen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden und unterstreichen können, warum all diese (post)migrantischen und anti-rassistischen Organisationen so wichtig sind. Schließlich machen wir das nicht aus Eigennutz, sondern um auf gesellschaftliche Utopien ohne Rassismus und Hass aufmerksam zu machen, die realisierbar werden können. Wir freuen uns daher, wenn andere migrantische Initiativen die Nähe zu uns suchen und mit uns (z.B. bei Projekten) zusammenarbeiten wollen.
6. Gibt es etwas Aktuelles oder Neuigkeiten zu einem Projekt etc., die ihr mit korientation & friends teilen möchtet?
Wir haben viele unterschiedliche Ideen, die wir in der Zukunft umsetzen wollen. So wollen wir schauen, wie wir uns mit der Rapper-Szene in Deutschland vernetzen können. Des Weiteren streben wir weitere Safe-Space Veranstaltungen an, wo diesmal andere Minoritäten zu Wort kommen können, sowie die Vernetzung zu ihnen und ihren Initiativen. Auch planen wir innerhalb von Hessen die migrantische Selbstorganisierung weiter voranzutreiben, so dass in möglichst vielen Städten unser Kampf geführt werden kann. Zudem wollen wir auch die migrantische Community unterstützen und vor allem unsere Arbeit an der Basis stärken, d.h. in die Viertel gehen und mit den Leuten aktiv das persönliche Gespräch aufsuchen. Unsere Gruppierung hat auch seit neuestem den Arbeitskreis „Migrantifemisistas“ – ein Zusammenschluss von migrantischen Frauen und LGBTQ, wo wir uns auch Aktionen überlegen wollen. Auf Instagram unter @migrantifa.hessen ist man immer auf den neuesten Stand über unsere Aktionen. Migrantifa Hessen freut sich über alle Migranten, die sich bei uns engagieren wollen. Wir sind immer offen für neue Leute.
¹ Die Antifaşist (Antifa) Gençlik wurde 1988 in Berlin gegründet, und es bildeten sich Antifa-Gençlik-Gruppen in weiteren deutschen Städten. Mitte der 1990er lösten sich die Strukturen infolge staatlicher Repression auf. Im April 2020 ist eine überarbeitete 2. Aufl. eines Dokumentationsbandes zu Antifa Gençlik erschienen: https://www.unrast-verlag.de/gesamtprogramm/allgemeines-programm/antifaschismus/antifa-genclik-detail