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Zwischen dem 22. und 26. August 1992 griffen bis zu Tausend Rechtsextremist*innen zunächst die Zentrale Aufnahmestelle (ZAST) für Asylsuchende an, in der sich vor allem geflüchtete Rom*nja-Familien auf­hielten. Nach der Räumung der ZAST ver­la­gerte sich das Pogrom auf ein Wohnheim für ehe­malige viet­na­me­sische Vertragsarbeiter*innen, das am Abend des 24. August in Brand gesetzt wurde. Die etwa 115 Vietnames*innen, dar­unter Kleinkinder und Hochschwangere, konnten sich zusammen mit einem ZDF-Fernsehteam und dem Rostocker Ausländerbeauftragten mit knapper Not vor dem Tod durch Rauchvergiftung in ein Nachbargebäude retten. Zum Höhepunkt des Pogroms herrschte eine volks­fest­artige Stimmung mit rasch auf­ge­bauten Bier- und Imbissbuden. Bis zu 3.000 Schaulustige beju­belten die ras­sis­tische Gewalt und feu­erten die bun­desweit ange­reisten Täter*innen an. Während die Angegriffenen in der Folgezeit fast alle abge­schoben wurden und die ZAST dau­erhaft geschlossen blieb, verlief die poli­tische Aufarbeitung und straf­recht­liche Verfolgung sehr schleppend. Da während des Pogroms nur wenige beweis­si­chernde Festnahmen erfolgten, wurden am Ende nur 40 Täter*innen meist zu geringen Geld- und Bewährungsstrafen ver­ur­teilt. Am 6. Dezember 1992 beschloss der Deutsche Bundestag mit den Stimmen von CDU, CSU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl stark einzuschränken.

Anlässlich der Jährung des ras­sis­ti­schen Pogroms von Rostock-Lichtenhagen ver­öf­fent­lichen wir ein Interview mit unserem Mitglied Kien Nghi Ha, das Katharina Dehn von den neuen deut­schen orga­ni­sa­tionen geführt hat. Siehe Originalbeitrag unter: https://neuedeutsche.org/de/artikel/rostock-lichtenhagen-war-fuer-mich-ein-erneuter-zivilisationsbruch

Kien Nghi Ha im Interview am 24.08.2020 mit Katharina Dehn (ndo)

Was sind deine Erinnerungen an Rostock-Lichtenhagen und die Zeit davor und danach?

Ich lebte damals als junger Student der Politikwissenschaft in Berlin und mit der Zeit machte ich mir immer weniger Illusionen über die deutsche Gesellschaft. Ich wuchs eigentlich mit dem Wunsch auf, aner­kannter Teil der deut­schen Gesellschaft zu sein und wollte wie viele Menschen of Color einfach wie selbst­ver­ständlich dazu gehören. Ich wollte Deutschland gerne haben und hier ent­spannt leben.

Aber das Pogrom gegen die viet­na­me­sische Community in Rostock-Lichtenhagen geschah ja nicht im gesell­schaft­lichem und poli­ti­schem Vakuum. Je natio­na­lis­ti­scher der deutsche Wiedervereinigungsprozess eska­lierte und je stärker die ras­sis­ti­schen Exzesse in den Parlamentsdebatten und die auf­het­zende Medienberichterstattung über die angeb­liche „Asylantenflut“ wurden, desto wach­samer und poli­ti­scher wurde ich. Ich habe in dieser Zeit so viel über die Weiße deutsche Gesellschaft gelernt und hatte das Gefühl, erstmals hinter die Maske der liberal-bürgerlichen Idylle zu blicken. Was ich dann in Rostock-Lichtenhagen unge­schminkt sah, war ein ras­sis­ti­scher Abgrund, der blanke Horror. So viel mas­sen­hafter dumpfer Hass gepaart mit dem selbst­ver­liebten Selbstbild als auf­ge­klärte Nation der Dichter, Denker und Biertrinker. Die live im Fernsehen über­tra­genen Bilder von dem bren­nenden Sonnenblumenhaus, das tagelang wie bei einer mit­tel­al­ter­lichen Belagerung sturmreif ange­griffen wurde, waren einfach unfassbar: Es sprengte alles, was ich mir bis dahin vor­stellen konnte im modernen, angeblich so zivi­li­sierten und demokratisch-rechtsstaatlichen Deutschland. Rostock-Lichtenhagen war für mich ein erneuter Zivilisationsbruch! Meine Gefühle waren eine bizarre und wider­sprüch­liche Mischung aus abso­luten Unglauben, Entsetzen, Abscheu, Wut, Trauer, Hilfslosigkeit und Trotz. In der unmit­tel­baren Situation wusste ich mir nicht besser zu helfen als einen Leserbrief an die taz zu schreiben.

Was ich in diesen Jahren eben­falls erlebte und was mich bis heute prägt, war aber auch die Erfahrung in migran­ti­schen, anti­ras­sis­ti­schen Zirkeln von People of Color, dass selbst­or­ga­ni­sierter Widerstand möglich ist, dass wir soli­da­rische Strukturen auf­bauen können und trotz unserer beschränkten Mittel nicht wehrlos sind.

Sonnenblumenhaus in der Mecklenburger Allee 19 ©KNH 2012
Haben die rassistischen Angriffe von Rostock-Lichtenhagen dich geprägt? Wenn ja, wie?

Die Bilder des Pogroms, das Wissen, wie der Staat und seine Institutionen darauf reagierten bzw. eher nicht reagierten, haben mein Deutschlandbild grund­sätzlich in Frage gestellt. Bereits zu wissen, dass Rostock-Lichtenhagen möglich war und ein neues ras­sis­ti­sches Pogrom jederzeit und überall in Deutschland möglich ist, ver­än­derte die Art und Weise, wie ich mich in Deutschland bewege, fühle und lebe. Ich stellte mir Fragen und schlug mich mit Unsicherheiten und Zweifeln herum, die ich früher nicht hatte. Wo war es noch sicher, wohin konnte ich gehen und wenn ja, wann? Ich machte mir natürlich auch Sorgen um meine Familie und Freund*innen, weil es ja offen­sichtlich war, dass die ras­sis­tische Gewalt all­ge­gen­wärtig ist und wir jederzeit damit rechnen müssen.

Welches Bild von der Polizei hat sich damals für dich ergeben?

Rostock-Lichtenhagen war möglich, weil die regie­rende poli­tische Elite und eine Vielzahl der demo­kra­tisch gewählten Volksvertreter*innen nicht nur kom­plett ver­sagten, sondern ihre dis­kri­mi­nie­renden und unbarm­her­zigen Attacken gegen das Grundrecht auf Asyl einen ras­sis­ti­schen Flächenbrand ent­zün­deten. Die Polizei – wie viele andere staat­liche Institutionen – gaben während des Pogroms ein jäm­mer­liches Bild ab, weil sie so offen­sichtlich hilflos, ori­en­tie­rungslos und kopflos agierte und ihre kom­plette Überforderung die ras­sis­tische Gewalt nicht nur zuließ, sondern auch befeuerte. Trotz wie­der­holter Anforderungen wurden die Einsatzkräfte vom zustän­digen Innenministerium mit viel zu wenig Personal aus­ge­stattet, und es gibt ernst­zu­neh­mende Indizien, dass chao­tische Zustände durchaus ins poli­tische Kalkül passten, um den par­la­men­ta­ri­schen Restwiderstand gegen eine de facto Abschaffung des Asylgrundrechts in der Verfassung zu brechen. 

Gegenwärtig wird das Thema Polizeigewalt und Racial Profiling diskutiert. Was ist dein Wunsch an die Politik und die Polizei heute?

Wir brauchen wis­sen­schaft­liche Studien über das Ausmaß von Racial Profiling nicht nur in der Polizeiarbeit, sondern in allen staat­lichen Institutionen und Verwaltungen. Wie Polizist*innen treffen auch Mitarbeiter*innen in Behörden wie der Arbeitsagentur oder dem Bundesamt für Migration und Integration Entscheidungen, die das Leben von Menschen of Color und Geflüchteten massiv beein­flussen. Daher müssen wir sicher­stellen oder zumindest alle erdenk­lichen Mittel ein­setzen, um den Einfluss von ras­sis­ti­schen Diskriminierungen und Vorurteilen in der öffent­lichen Daseinsfürsorge mög­lichst aus­zu­schließen oder min­destens zu mini­mieren. Dass aber bereits die Zweckmäßigkeit und Legitimität solcher Studien vom Bundesinnenministerium irra­tio­naler Weise ver­neint wird, beweist nur erneut, dass insti­tu­tio­neller Rassismus real exis­tiert. Solche Studien wären auch sinnvoll, um bereits lau­fende Maßnahmen wie Antidiskriminierungstraining und Vermittlung von Diversitätskompetenz ziel­ge­rich­teter und effek­tiver zu machen. Auch muss unver­züglich eine wirklich unab­hängige wie unpar­tei­ische Instanz mit weit­rei­chenden Befugnissen ein­ge­richtet werden, um Beschwerden gegen Polizeiübergriffe und Racial Profiling effektiv auf­zu­klären und ggf. straf­recht­liche Konsequenzen ein­zu­leiten. So weiter zu machen wie bisher macht absolut keinen Sinn, da die Polizei solche Ermittlungen selbst kon­trol­liert. Daher müsste die Arbeit einer neu ein­zu­rich­tenden Ermittlungsinstanz nach dem Beispiel des Rundfunkrats der öffentlich-rechtlichen Medien von einem Gremium kon­trol­liert werden, in dem zivil­ge­sell­schaft­liche Akteure wie Gewerkschaften, Kirchen, Frauenverbände und natürlich auch Migrant*innenselbstorganisationen pari­tä­tisch ver­treten sind.

Wie hast du die damalige mediale Berichterstattung erlebt? Wie schätzt du die mediale Berichterstattung in Bezug auf rassistische Gewalt heute ein? Hat sich aus deiner Sicht etwas verändert? Was muss sich verbessern?

Wie wis­sen­schaft­liche Fallstudien belegen, war die mediale Berichterstattung in den 1990er Jahren in diesem Diskursfeld nicht nur defi­zitär und ein­seitig, sondern zum Teil auch vor­ur­teils­be­lastet und dis­kri­mi­nie­rungs­för­dernd, so dass diese Epoche auch bran­chen­intern nicht als Ruhmesblatt in Erinnerung geblieben ist. Verglichen mit diesem jour­na­lis­ti­schen Tiefstand sieht die mediale Berichterstattung heute zum Teil besser aus, aber um wirklich belastbare und dif­fe­ren­zierte Aussagen zu machen, müssten wir fall- und auch immer kon­text­ab­hängig ana­ly­sieren. Dass es par­tielle Lernprozesse in den deut­schen Redaktionen gegeben hat, liegt auch an der Kritik von post­mi­gran­ti­schen Initiativen wie den „Neuen Deutschen Medienmacher*innen“. Auch die viel­fäl­tigen Gegennarrationen etwa von People of Color-Initiativen und anti­ras­sis­ti­schen Organisationen, aber auch von Einzelpersonen in den unter­schied­lichsten Formaten im Internet spielen eine Rolle, da sie das Informationsmonopol der eta­blierten Medienhäuser auf­brechen. Im Asiatisch[1]-dia­spo­ri­schen Kontext in Deutschland sind mit Organisationen wie „kori­en­tation – Netzwerk für asiatisch-deutsche Perspektiven“ auch neue Strukturen ent­standen, die eine Plattform für kultur- und medi­en­kri­tische Arbeit etwa zum aktuell viru­lenten Corona-Rassismus gegen Asiatisch mar­kierte Menschen bildet.

Wie sollte die Gesellschaft mit den rassistischen Angriffen in Rostock-Lichtenhagen umgehen? Was wurde versäumt? Was vermisst oder forderst du? Gibt es irgendetwas Positives, dass du hervorheben möchtest?

In Zeiten, wo kul­tu­relle Dekolonialisierung und die breitere Auseinandersetzung mit insti­tu­tio­nellem Rassismus auf der Tagesagenda steht, wäre es für alle an der Zeit zur Kenntnis zu nehmen, wie unver­ant­wortlich und sträflich ver­nach­läs­sigend die offi­zielle Erinnerungskultur mit dem Gedenken an Rostock-Lichtenhagen immer noch umgeht. Es ist ein böser Witz, wenn Medien und staat­liche Repräsentant*innen 2012 zum 20. Jahrestag erst­malig ein wahr­nehm­bares offi­zi­elles Gedenken insze­nieren, wo Vertreter*innen der lokalen viet­na­me­si­schen Community erst im letzten Moment herbei gekarrt werden, um dann gänzlich stumm als schmü­ckendes Beiwerk zu fun­gieren. So ver­kommt das leere und dis­kri­mi­na­to­rische Gedenken, wo die Betroffenen nicht mal in der Vorbereitungsarbeit ein­be­zogen werden, zu einem bloß sym­bo­li­schen Ritual der poli­ti­schen Entlastung. Damit wird poli­tische Verantwortung nicht über­nommen, sondern abge­führt mit dem Verweis „Wir haben was gemacht“. Statt auf den 30. Jahrestag zu warten, müsste das Gedenken in Form einer kon­ti­nu­ier­lichen Bildungs- und Erinnerungsarbeit erfolgen, die über die historisch-kulturellen Voraussetzungen, den kon­kreten Tatablauf sowie die poli­ti­schen und gesell­schaft­lichen Kurz- und Langzeitfolgen des größten Pogroms seit 1945 in Deutschland auf­klärt. Das kann nur eine museale Institution mit Dauerausstellung, beglei­tenden Seminaren und Diskussionen zu ver­wandten Themen wie etwa struk­tu­reller Rassismus in der offi­zi­ellen Erinnerungskultur: Warum gibt es auch nach 40 Jahren immer noch keinen ein­zigen offi­zi­ellen Gedenkort oder Straßennamen für Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu, die am 22. August 1980 in Hamburg von orga­ni­sierten Rechtsextremist*innen ermordet wurden? Sie gelten als die ersten gerichtlich doku­men­tierten ras­sis­ti­schen Mordopfer in der BRD seit 1945. Aber um mit einer posi­tiven Nachricht zu schließen: Erstmalig wird Ende August 2020 die aus Privatpersonen bestehende „Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân“ auf dem Hamburger Friedhof Öjendorf einen Gedenkstein ein­weihen, da ihre Gräber dort bereits auf­gelöst wurden.

Kien Nghi Ha, pro­mo­vierter Kultur- und Politikwissenschaftler, arbeitet als Publizist und Dozent in Berlin. Seine Monografie Unrein und ver­mischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolo­nialen „Rassenbastarde“ (tran­script 2010) wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2011 aus­ge­zeichnet. Im Herbst 2020 gibt er die erwei­terte Neuauflage von Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond (Assoziation A) heraus. Er ist auch Mitherausgeber von re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Unrast 2007).


[1] Wie bei Schwarz deutet die Großschreibung von Asiatisch an, dass es in diesem Fall nicht als Adjektiv zur regio­nalen Herkunftsbezeichnung benutzt wird, sondern kul­tu­relle Identitätskonstruktionen bezeichnet. Diese sind wie alle Identitäten umkämpft und wider­sprüchlich, da sowohl Praktiken der Selbstbezeichnung als auch Prozesse des Fremdwahrnehmung und des Otherings einfließen.

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Gedenkrede zum 40. Jahrestag des rassistischen Brandanschlags an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, Hamburg-Moorfleet, Halskestr. 72, am 22. August 2020 von Kien Nghi Ha

Sehr geehrte Damen und Herren, hallo liebe Freund*innen und Mitstreiter*innen,
Kính thưa các Quý ông và Quý bà, xin chào những người bạn và đồng nghiệp thân mến,

ich bin heute hierher gekommen, um Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu zu gedenken. Sie wurden an diesem Ort vor 40 Jahren durch orga­ni­sierte deutsche Rechtsextremist*innen ermordet. Es ist mir ein wich­tiges per­sön­liches wie poli­ti­sches Anliegen, meinen Respekt wie meine Trauer nicht zuletzt gegenüber den über­le­benden Angehörigen der Getöteten aus­zu­drücken. Obwohl der Anlass bedrü­ckend ist, ermutigt es mich sehr, dass die Mutter von Đỗ Anh Lân die 2014 ins Leben gerufene Gedenkinitiative* aus­drücklich unter­stützt. Ich möchte ihr sagen: Bà ơi, bà không chiến đấu một mình đâu. Oma, ihr steht mit Eurem Kampf nicht alleine da. Genauso wie sie wollen auch viele andere Menschen aus der vietnamesisch-deutschen Community in und außerhalb Hamburgs einen wür­digen öffent­lichen Gedenkort für die hier Ermordeten schaffen. 

Aber weder das Gedenken noch der Kampf für die Errichtung eines anti­ras­sis­ti­schen Lern- und Erinnerungsortes ist aus­schließlich Sache der betrof­fenen Familie oder der soge­nannten eth­ni­schen Gemeinschaft, sondern eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Verantwortung. Außerdem haben viele von uns am eigenen Leib erfahren, dass die ras­sis­tische Gewalt nicht wahllos, sondern ziel­ge­richtet und community-übergreifend mus­li­misch, Schwarz, jüdisch, Rom*nja und Sinte*zza, Latinx oder Asiatisch[1] mar­kierte Menschen trifft. Daher ist es nicht nur wün­schenswert, sondern absolut not­wendig, unsere uns eigene mensch­liche, emotional-kulturelle Solidarität groß­zügig zu leben und poli­ti­schen Widerstand grenz­über­schreitend zu organisieren.

Tödliche Spuren in der langen Geschichte des deutschen Rassismus

Ich kannte Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân nicht per­sönlich, aber ihre Geschichte ist mir nicht fremd. Wären wir uns begegnet, hätte ich sie mit Chu Châu und Anh Lân, also Onkel Châu und Bruder Lân ange­sprochen, denn ich war damals erst acht Jahre alt. Onkel Châu war Lehrer in Vietnam und wurde 1958 in Saigon geboren. Bruder Lân kam 1962 eben­falls in Saigon zur Welt und war zum Zeitpunkt seiner Flucht noch Schüler. Obwohl sie aus Südvietnam stammten und ich zufällig in der nord­viet­na­me­si­schen Stadt Hanoi geboren wurde, kann ich mich mit ihnen iden­ti­fi­zieren, da uns auf unter­schied­lichen Ebenen eine per­sön­liche Geschichte ver­bindet. Wir über­lebten zufällig den Geschwisterkrieg, der im Kern ein impe­ria­lis­ti­scher US-Krieg in Vietnam war, und kamen 1979 bzw. 1980 als erste soge­nannte Boat People in West-Deutschland an. Es war ebenso reiner Zufall, dass sie in Hamburg und ich mit meiner Familie in West-Berlin unter­ge­bracht wurden. 

Der heim­tü­ckische Brandanschlag, der genau an diesem Ort in der Nacht zum 22. August 1980 stattfand, war dagegen sehr ziel­ge­richtet und nicht zufällig, als er die beiden im Schlaf über­raschte. Dieses Ereignis hatte zual­lererst für die Betroffenen die bru­talst mög­liche Folge; es ver­nichtete das Leben von zwei jungen Männern: Bruder Lân starb bereits mit 18 Jahren und Onkel Châu wurde auch nur 22 Jahre alt. Leider ist in der Öffentlichkeit kaum mehr als das eben Gesagte über sie bekannt. Wir wissen nicht, welche Wünsche und Träume sie für sich hatten oder wie sie sich selbst und ihre Familien wahr­nahmen. Wir wissen aber, dass ihre Ermordung nicht zu begreifen ist, wenn wir sie nur als tra­gische indi­vi­duelle Schicksalsschläge deuten. Vergessen wir nicht, dass seit dem Ende der 1960er Jahre mit dem Attentat auf Rudi Dutschke eine anstei­gende rechts­extreme Gewaltwelle durch die BRD rollte. Dabei kamen nicht nur nackte kör­per­liche Gewalt und ein­fache Waffen zum Einsatz. Vielmehr ver­übten orga­ni­sierte Neonazis in diversen soge­nannten Werwolf‑, Kampf- und Wehrsportgruppen zunehmend Brand- und Sprengstoffanschläge. Die Tötung von Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu durch die Deutschen Aktionsgruppen leitete 1980 eine dichte Serie rechts­extremer und ras­sis­ti­scher Terrortaten ein. So ver­übten Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann noch im selben Jahr den Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest, der 13 Menschenleben kostete, und erschossen den jüdi­schen Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in Erlangen. Wie etwa in Mölln, Solingen und Lübeck in den 1990ern Jahren, wie die unzäh­ligen NSU-Morde eine Dekade später, aber auch der dies­jährige Massenmord in Hanau wie­der­kehrend bestä­tigen, gehört der rechts­extre­mis­tische Terror gegen People of Color und Migrierte seit vielen Jahrzehnten zum ras­sis­ti­schen Normalzustand der deut­schen Gesellschaft. Und heute vor genau 28 Jahren begann auch das größte ras­sis­tische Pogrom seit 1945 in Rostock-Lichtenhagen, das vier Tage andauerte und stun­denlang live im öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm über­tragen wurde.

In diesem his­to­ri­schen Zusammenhang nimmt die Ermordung von Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân einen beson­deren Platz ein: Sie sind in West-Deutschland die ersten poli­zeilich doku­men­tierten und gerichtlich nach­ge­wie­senen ras­sis­ti­schen Mordopfer seit 1945. Realistischerweise ist leider davon aus­zu­gehen, dass vor­an­ge­gangene ras­sis­tische Morde und Gewalttaten auf­grund der Weißen Ignoranz und der ras­sis­ti­schen Struktur der mehr­heits­deut­schen Institutionen nicht auf­ge­deckt und ent­spre­chende Verdachtsmomente nicht erkannt oder nach­ge­gangen wurden. So sind erst in den letzten Jahren Hinweise auf­ge­taucht, dass die kuba­ni­schen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Andrés Paret am 12. August 1979 von einem ras­sis­ti­schen Mob durch das sächsisch-anhaltinische Merseburg getrieben wurden und bei ihrem Fluchtversuch in der Saale ertranken.

Die Morde in der Halskestrasse stellen aber auch eine poli­tische Zäsur für die viet­na­me­sische Diaspora in Deutschland dar. Wer bis dahin glaubte, von der Weißen Mehrheitsgesellschaft als hart arbei­tende Asiat*innen mit ver­meintlich preu­ßi­schen Tugenden aner­kannt zu sein oder im Kalten Krieg dachte, als sym­pa­thische Opfer des Kommunismus respek­tiert zu werden, wurde in seiner trü­ge­ri­schen Komfortzone mit einer anderen Realität kon­fron­tiert. So werden Nguyễn Văn Tú 1992 in Berlin-Marzahn, Phan Văn Toàn 1997 im bran­den­bur­gi­schen Fredersdorf, Nguyễn Tấn Dũng 2008 in Berlin-Marzhan und Duy Doan Pham 2011 im nie­der­rhei­ni­schen Neuss von Rechtsextremisten erstochen oder grausam erschlagen. Diese Tötungen stellen Stationen in der langen Reihe ras­sis­tisch moti­vierter Morde in Deutschland dar. Für den Zeitraum von 1990 bis 2020 hat die Amadeu Antonio Stiftung 208 Todesopfer rechts­extremer Gewalt auf­ge­listet und zählt min­destens zwölf weitere Verdachtsfälle. Die Zeit und andere Medien haben über weitere 51 Verdachtsfälle berichtet. Nach meiner Zählung wurden seit 1979 in Ost- und Westdeutschland min­destens 134 People of Color und ost­eu­ro­päische Migrant*innen auf­grund nach­ge­wie­sener oder ver­mut­licher ras­sis­ti­scher Mordmotive getötet.

Das Versagen von Politik und Medien: Entinnerung als institutioneller Rassismus

Wie vielen von uns fällt es mir auch nicht leicht, hier zu sein, um an die Terrorgeschichte dieses ras­sis­ti­schen Brandanschlags zu erinnern. Das hängt nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass die Geschichte von Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu nach wie vor kaum bekannt ist. Zwar wurde der Brandanschlag in den dama­ligen Medien kurz­zeitig wahr­ge­nommen. Aber bereits bei der Beerdigung, bei der der damalige Erste Bürgermeister Hamburgs Hans-Ulrich Klose eine Trauerrede hielt, wurden nicht nur die Opfer begraben, sondern auch das öffent­liche Gedenken an diese Tat. Die städ­ti­schen Honoratior*innen und die Medien, aber auch die hiesige Zivilgesellschaft gingen danach schnell zur mehr­heits­deut­schen Schein-Normalität über. Sie taten so, als ob diese Tat nichts weiter als ein pein­licher Fauxpas, ein allzu bedau­er­licher Betriebsunfall war, der kei­nes­falls als dau­er­hafter Schandfleck auf der weißen Weste in Erinnerung bleiben sollte. Unausgesprochen und viel­leicht auch unbe­wusst wurde damit ein domi­nanz­deut­scher Konsens her­ge­stellt, in der die unleugbare Existenz eines töd­lichen Rassismus weder lang­fristige noch tief­grei­fende Auswirkungen auf das eigene Weiße Selbstverständnis oder auf gesell­schaft­liche Strukturen haben sollte. Entsprechend sollte das Gedenken an diesen ras­sis­ti­schen Doppelmord keinen Platz in der offi­zi­ellen Stadtgeschichte, im Stadtraum und der öffent­lichen Erinnerungskultur bean­spruchen dürfen.

Wie gründlich diese Amnesie und wie radikal die Realitätsverdrängung des insti­tu­tio­nellen Rassismus ist, lässt sich auch noch heut­zutage erahnen: So berichtete die in Hamburg sit­zende Wochenzeitung „Die Zeit“ erst im Zusammenhang mit der skan­dal­um­wit­terten Aufdeckung des NSU-Terrors 2012 erst­malig seit 1980 wieder über diesen Brandanschlag. Das Medienhaus, das sich selbst als sys­tem­re­le­vanten Watchdog sieht, hat sich in diesem Fall merk­würdig unzu­fällig als Totalausfall erwiesen. Auch hat „Die Zeit“ ihre offen­sichtlich besondere Verantwortung für Đỗ Anh Lân gänzlich ver­gessen, der im August 1979 in einer von Wochenzeitung und dem Hamburger Senat initi­ierten Hilfs- und social Sponsoring-Aktion mit 250 anderen viet­na­me­si­schen Boat People von der malai­ischen Insel Pulau Bidong in die Hansestadt trans­por­tiert wurde.

Daher ist es für uns umso wich­tiger, wenigstens die Erinnerung lebendig zu halten und diese Geschichte und alle anderen Geschichten nicht zu ver­gessen ist, wo Menschen Leidtragende von Rassismus, Sexismus, kapi­ta­lis­ti­schen Neo-Kolonialismus und anderen men­schen­ver­ach­tenden Machtverhältnissen wurden und immer noch werden. Es ist wichtig, dass wir uns heute hier und anderswo ver­sammeln, um durch unsere kör­per­liche Präsenz und durch unser gemein­sames Gedenken zumindest ein tem­po­räres, aber dafür leben­diges Denkmal zu impro­vi­sieren und durch unsere Stimmen einen wahr­nehm­baren Gedenkraum für alle Opfer ras­sis­ti­scher Gewalt zu inszenieren.

Das offi­zielle Nicht-Erinnern ist jedoch kein Zufall, sondern die logische Konsequenz der hege­mo­nialen Entinnerung. Damit bezeichne ich insti­tu­tio­nelle Strukturen und politisch-kulturelle Praktiken des Vergessenmachens, der Nicht-Würdigung und Aberkennung. Dass heute kein Mahnmal, keine dau­er­hafte Gedenktafel, keine Straße, kein Park, keine Schule, keine Halle, kein Sportplatz, kein Bahnhof, kein Haus, kein Zug, kein Schiff, kein Stolperstein, nicht mal ihre inzwi­schen auf­ge­lösten Gräber an ihre Existenz und an das ras­sis­tische Verbrechen ihrer Auslöschung erinnert, sagt extrem viel über deutsche Gründlichkeit, ras­sis­ti­schen Sauberkeitswahn und Weiße Stadtplanung aus. An dieser Stelle sei kurz daran erinnert, dass ihre unaus­sprech­lichen viet­na­me­si­schen Namen dem zustän­digen Bezirksamt bei der Prüfung des Straßenumbenennungs­Begehrens als unpas­sende Fremd- und unzu­mutbare Klangkörper erschienen. Mir scheint dagegen, dass in der angeblich so welt­of­fenen Hansestadt für die Opfer des Rassismus enge büro­kra­tische Toleranzgrenzen und sprach­liche Reinheitsgebote des Eurozentrismus gelten. Umso mehr, wenn es darum geht, ihnen einen offi­zi­ellen Erinnerungsort in der heu­tigen Stadtlandschaft einzuräumen.

Um fair zu sein, wir kennen auch aus anderen Städten viele gleich­ge­la­gerte Beispiele, so dass die euro­zen­tris­tische Aufladung bei der Benennungspolitik öffent­licher Orte kein spe­zi­fi­sches Problem Hamburgs ist. In der gesamt­deut­schen Normalitätsvorstellung herrscht anscheinend immer noch eine urdeutsche Norm ohne Migrationserfahrungen und gegen­kul­tu­reller Globalisierung. In dieser Konstruktion der deut­schen Normalität erscheint es immer noch ratio­naler und poli­tisch kor­rekter, Akteure und Orte mit kolonial-rassistischen Bezügen zu ehren als Menschen, die sich dagegen gewandt und/oder dar­unter gelitten haben. Umso schein­hei­liger, hohler und absurder ist dieses Polit-Theater im 21. Jahrhundert, wenn im gleichen Atemzug auch noch der Anspruch auf welt­po­li­tische und mora­lische Überlegenheit damit ver­bunden wird. In den ach so auf­ge­klärten, offenen und inter­kul­tu­rellen Demokratien des Westens ist weder die euro­päische Geschichte des Kolonialrassismus auf­ge­ar­beitet noch seine Gegenwart tat­sächlich überwunden.

Die Umbenennung der Halskestrasse in Châu-und-Lân-Strasse, viel­leicht auch Đỗ-Nguyễn-Strasse oder eine andere Namensvariation wäre aus meiner Sicht ein sinn­stif­tender Beitrag zur anti­ras­sis­ti­schen Umgestaltung und Dekolonialisierung deut­scher Stadt- und Alltagskultur. Auf jeden Fall sollte der Senat in die Pflicht genommen werden um even­tuell über­le­bende Familienangehörige von Nguyễn Ngọc Châu aus­findig zu machen und zu kon­tak­tieren, um ihre Einbeziehung in den Umbenennungsprozess auf gleicher Augenhöhe sicher­zu­stellen. Eine Umbenennung würde darüber hinaus auch dazu bei­tragen, unsere Ausgrenzungsmöglichkeiten zu redu­zieren und unsere Vorstellungskraft davon zu ver­ändern, wer dazu und was alles hierher gehört. Sie wäre ein kul­tu­reller und bil­dungs­po­li­ti­scher Mehrwert, den wir in Zeiten des struk­tu­rellen Racial Profiling, des unheim­lichen Phänomens NSU 2.0 in der deut­schen Polizei und des assi­mi­la­to­ri­schen Integrationsparadigmas unbe­dingt brauchen.

Rechtsextreme Kontinuitäten in den staatlichen Sicherheitsorganen

Was die staat­lichen Sicherheitsorgane angeht, so zeigen nicht nur die jüngsten Ereignisse, dass rechts­extreme und ras­sis­tische Polizeigewalt ein mas­sives sys­te­mi­sches Problem dar­stellen. Der Grad der Unterscheidbarkeit zwi­schen staat­lichen Sicherheits- und Terrortruppen ist in Deutschland zuweilen erschre­ckend klein. Nicht nur die Polizei in unter­schied­lichen Bundesländern, auch diverse Verfassungsschutzämter und Bundeswehreinheiten sind in den ver­gan­genen Jahrzehnten immer wieder durch haar­sträu­bende Verwicklungen zu rechts­extremen Organisationen auf­ge­fallen. Dokumentiert sind aller­dings nur die auf­ge­deckten Fälle, aber es ist davon aus­zu­gehen, dass es in diesem Bereich eine hohe Dunkelquote an geheim ope­rie­renden Netzwerken und Tarn­organisationen gibt. Diese Verbindungen wurden vor allem durch anti­fa­schis­tische Aktivist*innen und inves­ti­gative Journalist*innen ent­deckt, während staat­liche Stellen bislang eher durch Beschwichtigungen und Dementis auf­fielen. Der Stellenwert ras­sis­ti­scher Gewalt in den Staats­organen muss in Relation zur gesamt­ge­sell­schaft­lichen Verfasstheit gesehen werden, die in ihrem Kern struk­turell, administrativ-institutionell und zwei­fellos auch kul­turell ras­sis­tische Muster auf­weist. Diese Konfiguration bringt im Alltag exis­ten­zielle Probleme hervor, da nicht selten Weiße Entscheider*innen mit dis­kri­mi­na­to­ri­schen Vorurteilen oder Motivationen im staat­lichen Auftrag handeln: Ob jemand sicher in Deutschland leben darf und kann, hängt viel zu oft von der Perspektive und der staatlich anver­trauten Entscheidungsmacht ras­sis­ti­scher Subjekte ab.

Wer sich die Geschichte des Rechtsextremismus in Deutschland seit dem Deutschen Kolonial­kaiserreich anschaut, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass sich gerade in den soge­nannten Sicherheitsorganen starke rechts­extreme Tendenzen kon­zen­trieren. Das galt nicht nur in der Weimarer Republik, sondern bei­spiels­weise auch in den 1980er Jahren, als auf­fällig viele Polizist*innen sich als Mitglieder und Sympathisant*innen der völkisch-nationalistischen „Republikaner“ von Franz Schönhuber zu erkennen gaben, der früher SS-Unterscharführer war, damals als stell­ver­tre­tender Chefredakteur des regio­nalen Fernsehprogramms des Bayerischen Rundfunks fun­gierte und später zur NPD abwan­derte. Und es gilt auch heute: Wer jetzt durch die Mitgliedslisten der AFD geht, wird wie­der­kehrend auf deutsch klin­gende Namen mit ehren­werten bür­ger­lichen Berufen stoßen. Darunter sind viele Richter*innen, Staats- und Rechtsanwälte, Staatsbeamte und andere Verwaltungsangestellte, Professor*innen, Lehrer*innen, Journalist*innen, aber natürlich auch Berufe von Architekt*innen bis Unternehmer*innen und nicht zuletzt immer wieder Polizist*innen. Wie uns leider die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mehr als einmal gelehrt hat, werden rechts­extreme Bewegungen viel zu häufig von einem struk­tur­kon­ser­va­tiven Rechtssystem ent­schuldigt und von der Mehrheit der Weißen Volksvertreter*innen ver­harmlost, sehr oft mit dem Standardsatz: „Wie müssen die Sorgen und Ängste der deut­schen Bevölkerung ernst nehmen.“ Befremdlich ist mir an solchen Sätzen die Selbstverständlichkeit, mit der Bürger*innen of Color, migran­tische und post­mi­gran­tische Communities aus der deut­schen Gesellschaft und Wähler*innen­schaft aus­ge­schlossen werden. Menschen wie wir werden so in Gedanken quasi ent­bürgert, d.h. ent­rechtet und unsichtbar gemacht. Aber sie irren sich: Unsere Stimmen zählen und das min­destens sogar im dop­pelten Sinne.

Der Präzedenzfall Walter Lübcke setzt neue erinnerungspolitische Standards

Wie die Gedenk- und Erinnerungskultur zugunsten der Opfer rechts­extremer Gewalt im besten Falle aus­sehen kann, wenn der poli­tische Willen vor­handen ist und eine genuine iden­ti­täts­po­li­tische Betroffenheit vor­liegt, zeigt die Geschichte von Walter Lübcke. Wie wahr­scheinlich alle hier wissen, war Walter Lübcke zunächst Hessischer Landtagsabgeordneter der CDU und zuletzt als Regierungspräsident in Kassel tätig bevor er im Juni 2019 von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. Sein Mord löste eine über­wäl­ti­gende Medienresonanz und eine sehr große Betroffenheit in der Bevölkerung aus: Es fanden mehrere Trauergottesdienste und zahl­reiche Gedenk­veranstaltungen in meh­reren Landtagen sowie im Bundesrat statt. Ihm wurde posthum neben der Wilhelm-Leuschner-Medaille, die höchste Auszeichnung des Landes Hessen, auch der nord­hes­sische Herkules-Ehrenpreis ver­liehen. Hessen hat zudem den neuen Walter-Lübcke-Demokratie-Preis aus­gelobt; eine Schule in Wolfhagen, wo er wohnte, wird nach Walter Lübcke umbe­nannt und in Fulda wird es bald eine Dr.-Walter-Lübcke-Straße geben. Diese Aufzählung ist nicht end­gültig, da in Zukunft sicherlich mit wei­teren Ehrungen zu rechnen ist. Mir steht es fern, an dieser Stelle das poli­tische Wirken von Walter Lübcke oder die ihm zuge­dachten Ehrungen in Zweifel zu ziehen. Vielmehr finde ich es sehr beein­dru­ckend, in welcher Geschwindigkeit und Dichte hier Denkmäler und öffent­liche Erinnerungsorte geschaffen werden und büro­kra­tische Anforderungen scheinbar mühelos erfüllt werden können. Das ist umso erstaun­licher, da in anderen Fällen diese von städ­ti­schen Verwaltungen als schier unüber­windbare formale Hindernisse dar­ge­stellt werden. Trotz lang­jäh­riger Bemühungen ver­laufen viele Initiativen daher im Sande, während Ämter und zuständige poli­tische Gremien mit Unschuldsmiene auf fel­sen­feste Vorschriften und gesetz­liche Vorgaben verweisen.

Der Präzedenzfall Walter Lübcke setzt m.E. nach neue Standards im kultur- und erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Umgang mit den Opfern rechts­extremer Gewalt. Weder sachlich noch poli­tisch oder mora­lisch ist es begründbar und zu recht­fer­tigen, dass sich eine Zweiklassengesellschaft in der öffent­lichen Gedenkkultur eta­bliert. Da wir alle über unsere Steuern diese Gedenkkultur mit­fi­nan­zieren, ver­langt nicht nur die Betroffenheit von Rassismus, sondern auch die demo­kra­tische Repräsentation eine nicht-diskriminatorische Erinnerungspolitik. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang nicht ver­kehrt, die poli­tische Elite an ihrem eigenen neo­li­be­ralen Grundsatz zu erinnern: no taxation without repre­sen­tation. Bisher hat der insti­tu­tio­nelle Rassismus in den gesell­schaft­lichen Strukturen eine Entsprechung in der selek­tiven Erinnerungspolitik und öffent­lichen Gedenkkultur, die sys­te­ma­tisch Menschen of Color mar­gi­na­li­sieren und ausschließen.

Es gibt also einen Rassismus zweiter Ordnung, etwa in Form der kul­tur­po­li­ti­schen Institutionalisierung von Diskriminierung und Benachteiligung, die auf dem initialen kör­per­lichen Angriff oder dem ursprüng­lichen struk­tu­rellen Rassismus in der Schule oder auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt folgt und ihr als sich selbst ver­stär­kender Kreislauf gleich­zeitig vor­ausgeht. Solange wir diese kul­tu­relle Dimension nicht erkennen, also die zweite und weitere Ebenen des Rassismus wahr­nehmen, stoßen wir an Grenzen, die die Unmöglichkeit der Erinnerbarkeit und des Erkennens von Rassismus betreffen. Diese mit­ein­ander ver­schränkte Komplexität zu erkennen und ihre ver­krus­teten Dominanzstrukturen auf­zu­brechen, ist eine dringend zu lösende Aufgabe in der Gegenwart. Ich denke, dass die trans­kon­ti­nentale Solidarität mit der US-Amerikanischen Black Lives Matter-Bewegung und ihre hie­sigen Rückkoppelungen etwa in Form des erst­ma­ligen Interesses für die Dekolonialisierung euro­zen­tris­ti­scher Kulturstandards oder die Auseinander­setzung mit insti­tu­tio­nellem Rassismus in brei­teren Bevölkerungskreisen ein wich­tiges poli­ti­sches Momentum für anti­ras­sis­tische Initiativen bereit­stellt. Jetzt geht es darum, den Mut und die orga­ni­sa­to­rische Schlagkraft auf­zu­bringen, um in lokalen Gruppen, bun­des­weiten Netzwerken und glo­balen Bewegungen die Verhältnisse vor Ort wie in den sys­tem­re­le­vanten Strukturen weltweit in Frage zu stellen und lebens­werte Alternativen zu entwickeln. 

Meine Rede möchte ich hier mit einer Erkenntnis der Schwarzen ame­ri­ka­ni­schen Psychologin Beverly Daniel Tatum schließen. Die von ihr beschriebene schlei­chende Vergiftung macht uns dau­erhaft krank und führt uns als Individuen wie als Gesellschaft alter­na­tivlos zum Tode.

Sie schreibt: „Cultural racism … is like smog in the air. Some days it is so thick it is visible, other times it is less apparent, but always, day in and day out, we are breathing it in.“

Meine Übersetzung: Kultureller Rassismus … ist wie Smog in der Luft. An manchen Tagen ist er so dick, dass er sichtbar ist, an anderen ist er weniger offen­sichtlich, aber immer, Tag für Tag, atmen wir ihn ein.

Kien Nghi Ha, pro­mo­vierter Kultur- und Politikwissenschaftler, arbeitet als Publizist und Dozent in Berlin. Seine Monografie Unrein und ver­mischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolo­nialen „Rassenbastarde“ (tran­script 2010) wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2011 aus­ge­zeichnet. Im Herbst 2020 gibt er die erwei­terte Neuauflage von Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond (Assoziation A) heraus. Er ist auch Mitherausgeber von re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Unrast 2007).


*Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, https://inihalskestrasse.blackblogs.org

[1] Wie bei Schwarz deutet die Großschreibung von Asiatisch an, dass es in diesem Fall nicht als Adjektiv zur regio­nalen Herkunftsbezeichnung benutzt wird, sondern kul­tu­relle Identitätskonstruktionen bezeichnet. Diese sind wie alle Identitäten umkämpft und wider­sprüchlich, da sowohl Praktiken der Selbstbezeichnung als auch Prozesse des Fremdwahrnehmung und des Otherings einfließen.