Tusán, Nikkei, Ise. Für eine Poetik der Bastarde der Globalisierung

von Puo-An Wu Fu

Als ich im Sommer 2018 ein­ge­laden wurde, im Rahmen der Jahresabschlussveranstaltung von kori­en­tation e.V. einen Vortrag über mein Promotionsprojekt zum Thema trans­pa­zi­fische Literatur zu halten, war mein aller erster Gedanke, dass ich wohl die seltene Gelegenheit ergreifen sollte, meine eigenen Lebenserfahrungen mit­ein­zu­be­ziehen, anstatt einen deskrip­tiven oder wis­sen­schaft­lichen Bericht zu liefern. Dadurch erhoffte ich, eine Diskussion mit meinem Publikum hier in Deutschland anzu­regen, wo sich alle Beteiligten auf Augenhöhe darüber aus­tau­schen konnten, inwiefern sich unsere Erfahrungen über­schneiden und unter­schieden, sowie ob ein Dialog zwi­schen der post­mi­gran­ti­schen Generationen in ver­schie­denen Kontinenten denkbar ist. Diesen Aspekt meines Forschungsvorhabens hatte ich bisher nur privat im engsten Freundeskreis besprochen.

Wie sicherlich für viele LeserInnen ist für mich die Frage „Wo kommst du wirklich her?“ eine pro­ble­ma­tische Alltagserfahrung. Genau diese Frage möchte ich zuerst beant­worten und zwar nicht, weil mein Gegenüber eine vor­be­stimmte Antwort von mir ver­langt, sondern weil ich es frei­willig erzählen möchte. Dass ich über­haupt darüber ent­scheiden darf, wem ich was über mich erzähle, scheint mir leider sehr selten vor­zu­kommen, unab­hängig davon, ob ich mich in Deutschland oder zu Hause in Chile befinde. Dieses Hinterfragen oder sogar die Verweigerung der Selbstbestimmung ist die Grundlage des vor­lie­genden Beitrags. Ausgehend von meiner eigenen Erfahrung werde ich im Folgenden ver­suchen, zwei zusätz­liche Fragen zu beant­worten: „Warum ein Forschungsprojekt über Schriftsteller und Schriftstellerinnen der zweiten Generation?“ und „Wozu brauchen wir unsere eigene Poetik, unsere eigene lite­ra­rische Stimme?“

Dramatis Personae

Ich fange mit dem Ort des Schreibens an. Am 17. Oktober 2018 begann meine Heimreise nach Chile, die zweite nach der ersten Rückreise vor ungefähr zehn Jahren. Als ich geboren wurde, saß der Diktator Augusto Pinochet immer noch in dem Palacio de la Moneda, dem iko­ni­schen Gebäude in Santiago de Chile, welches mit dem Kanzleramt hier in Berlin ver­gleichbar wäre. Aufgrund von meinem Geburtsort habe ich zwei Doppelnamen: zwei Vornamen, einen auf Chinesisch und einen wei­teren auf Spanisch, der aller­dings nicht in meinem Pass steht; und zwei Familiennamen, wie alle ChilenInnen einen väterlicher- und einen müt­ter­li­cher­seits. Vollständig ist mein Name „Puo-An Francisca Wu Fu“. Manchmal darf ich ent­scheiden, wie ich heiße. Manchmal sind es andere Menschen, die diese Entscheidung für mich treffen.

Im Sommer 1999 gelang es meiner Mutter, den Traum von allen tai­wa­ni­schen Einwanderern zu ver­wirk­lichen: Wir sind zusammen nach Kalifornien gezogen, wo mein Bruder und ich angeblich eine bessere Bildung und ein bes­seres Leben haben könnten. Neun Jahre später fiel mir ein, in Deutschland zu stu­dieren. Kurz vor dem Umzug nach Deutschland konnte ich zum ersten Mal endlich wieder nach Hause. Diese erste Reise war eben vor ungefähr zehn Jahren.

Meine Heimatstadt Santiago befindet sich in einem Tal. Die sichtbare Luftverschmutzung und das ständige Husten erwecken Nostalgie in mir. Hier, zu Hause, hatte ich es vor, den Vortrag für kori­en­tation zu schreiben. Der Ort spielt nämlich eine aus­schlag­ge­bende Rolle für den Akt des Schreibens. Die Selbstdistanzierung, in diesem Fall von Europa aus über Amerika zu schreiben, kann eine vor­teil­hafte, ernüch­ternde Wirkung haben, wenn man sich vor­nimmt, sich mög­lichst sachlich einem Forschungsobjekt zu widmen. Aber für diesen Vortrag wollte ich eben nicht sachlich schreiben. Denn nur aus den Emotionen der Vergangenheit, die in meiner Heimatstadt her­me­tisch auf­be­wahrt waren, konnte ich wirklich fühlen, was auf dem Spiel steht, wenn man sich selbst zum wis­sen­schaft­lichen Forschungsobjekt macht. Nur an diesem Ort konnte ich den Sinn und die Notwendigkeit einer trans­pa­zi­fi­schen Poetik nicht nur intel­lek­tuell erfassen sondern vor allem affektiv fühlen.

Ein ein­ziges Buch erlaubte ich mir nach Chile mit­zu­nehmen, sodass ich nicht vor lauter Ablenkung kein ein­ziges Wort auf­schreibe: Much Ado About Nothing (MAAN) von William Shakespeare.

Erster Aufzug
Bastarde der Weltliteratur

Über William Shakespeare brauchen wir gewiss nicht viel zu sagen, da viele wenn nicht alle seiner lite­ra­ri­schen Werken einen wesent­lichen Bestandteil der soge­nannten „Weltliteratur“ aus­machen. Sein Oeuvre wird in alle mög­lichen Sprachen immer wieder neu über­setzt und von zahl­reichen Menschen an allen mög­lichen Orten der Welt bereits in den Schuljahren gelesen. Warum? Über Shakespeare hat ein anderer Dichter der „Weltliteratur“, der Chilene Pablo Neruda, in der Einführung zu seiner Übersetzung ins Spanische von Romeo and Juliet aus dem Jahre 1964 Folgendes geschrieben:

En cada época un bardo asume la tota­lidad de los sueños y de la sabi­duría: expresa el cre­ci­miento, la extensión del mundo. Se llama una vez Alighieri o Victor Hugo, Lope de Vega o Walt Whitman.
Sobre todo se llama Shakespeare.

(Neruda 1964, S.5)

[In jeder Epoche über­nimmt ein Dichter die Gesamtheit der Träume und der Weisheit: Er bringt das Heranwachsen, die Reichweite der Welt zum Ausdruck. Manchmal heißt er Alighieri oder Victor Hugo, Lope de Vega oder Walt Whitman.
Vor allem heißt er Shakespeare.]
[Alle Zitate habe ich selbst ins Deutsche übersetzt]

Für Neruda scheint Shakespeare alles über die Welt zu wissen, was es zu wissen geben kann. Dabei ergibt sich die Frage, ob der Barde wirklich all unsere Träume und die gesamte Weisheit der Menschheit kannte, oder ob wir, his­to­risch und kul­turell distan­zierte LeserInnen, aus Menschen der Vergangenheit lite­ra­rische Giganten machen, um uns in den Welten der Anderen wie­der­zu­finden, um dadurch eine uni­versal ver­ständ­liche Welt zu schaffen. Ist die Weltliteratur uni­versal oder wird sie uni­versal gemacht? Später kehren wir zu dieser Unterscheidung zurück.

Laut der ersten Auflage von Signet Classic wurde MAAN 1600 ver­öf­fent­licht. Zwar ist Shakespeare eher für seine Tragödien und Sonette welt­be­kannt, aber diese Komödie gehört auch zum Kanon der Weltliteratur. Im deutsch­spra­chigen Raum gilt heut­zutage die Übersetzung der deut­schen Romantiker, die soge­nannte Schiller-Tieck Übersetzung, als der Quelltext für alle deutsch­spra­chigen Übersetzungen von Viel Lärm um nichts. Diese Übersetzung wurde 1830 ver­öf­fent­licht, zu der gleichen Zeit, als sich Goethes Gedankengut über die Übersetzbarkeit von Literatur, das wir heut­zutage in der Form der Gattung namens „Weltliteratur“ kennen, herauskristallisierte.

Ich hatte dieses Buch nicht ohne Grund in den Koffer getan. In MAAN geht es haupt­sächlich um zwei Liebesgeschichten, aber uns inter­es­siert eher die Beziehung zweier Hauptfiguren. In der ersten Szene erfahren wir, dass Don Pedro, auch Don Peter und Prince of Arragon (auch Aragon) genannt, im Laufe der kom­menden Tage in Messina ankommen soll. Ihn begleitet der Bösewicht der Komödie, sein Bruder Don Juan, auch Don John, John the Bastard und the Bastard im eng­li­schen Text genannt.

Don John
inter­es­siert uns aus einem kon­kreten Grund, und es hat mit seiner Ethik zu tun. Kurz vor der Anreise in Messina hatte sich Don John mit seinem Bruder ver­söhnt, weshalb Leonato, der Gouverneur der Stadt Messina, ihn über­haupt emp­fangen darf und muss. Daraufhin begrüßt ihn Leonato in der ersten Szene mit fol­genden Worten:

Let me bid you welcome, my lord; being recon­ciled to the Prince your brother, I owe you all duty.
(MAAN Z. 149–151)

[Ich heiße Sie will­kommen, mein Herr; nach Ihrer Versöhnung mit dem Prinzen, Ihrem Bruder, bin ich Ihnen zu Diensten verpflichtet.]

In Shakespeares Komödie exis­tiert Don Jon nur im Verhältnis zu seinem Bruder. Er wird zusammen mit dem Legitimen emp­fangen, ist aber selbst nicht legitim. Don John ist darüber hinaus ein Adeliger —„my lord“— aber zugleich nicht ganz ein Prinz wie sein Bruder. Was vor der Versöhnung geschehen ist, erfahren wir als LeserInnen nicht. Eines lässt sich aber fest­stellen: Don John muss seine Beziehung zu seinem legi­timen Bruder pflegen, ihm nah sein, sozu­sagen, um gesell­schaftlich akzep­tiert und sichtbar werden zu können. Peter ist aus einer sittlich legi­timen Ehe geboren worden, müssen wir annehmen; er ist der wahre Prinz von Arragon. John hin­gegen müsste aus einer ille­gi­timen Vermählung geboren worden sein; die Elternteile stammten ver­mutlich aus gesell­schaftlich inkom­pa­tiblen Schichten. In diesem Sinne hat John kein Recht auf Selbstbestimmung. Seine gesell­schaft­liche Akzeptanz wird von seiner Beziehung zu seinem Bruder bestimmt. Wäre er nicht mit Peter ver­söhnt, wäre es nicht sittlich gewesen, ihn anzu­er­kennen und in Messina zu empfangen.

Diese Handlungsunfähigkeit gegenüber der Selbstbestimmung, die gleich­zeitig auf­grund von und aus­gehend von seiner Geburt ent­standen ist, führt dazu, dass Don John sich zu allem bereit erklärt, was Don Peter das Leben erschweren könnte. Seinerseits war es nämlich eine rein aus Notwendigkeit vor­ge­gau­kelte Versöhnung mit Peter. Sich gegen seinen Bruder zu stellen, aller­dings ohne ent­deckt zu werden und dadurch seine Quasi-Legitimation zu ver­lieren, ist die einzige Handlungsmöglichkeit, die er für sich sieht. Im ersten Aufzug 3. Szene sagt John Folgendes über seinen Bruder:

I had rather be a canker in a hedge than a rose in his grace […]. In this, though I cannot be said to be a flat­tering honest man, it must not be denied but I am a plain-dealing villain. I am trusted with a muzzle and enfran­chised with a clog; the­r­efore I have decreed not to sing in my cage. If I had my mouth, I would bite;
if I had my liberty I would do my liking.

(MAAN Z. 24–34)

Aus einem unbe­kannten Grund kann Don John seinen Bruder gar nicht leiden, aber er weiß ganz genau, dass er den Prinzen braucht. Daher die Metapher „trusted with a muzzle“: Wie ein mit einem Beißkorb gezähmtes Tier. Das Wort „enfran­chised“ ist hier auch ent­scheidend. Ins Deutsche über­setzt könnte es soviel wie „befreit“ bedeuten, aber ich finde es nicht unin­ter­essant, dass wir dieses Wort heut­zutage eher mit Wahlberechtigung assoziieren.

Wir sehen hier, dass John wider­sprüch­liche ethische Prinzipien ein­halten muss. Zum einen muss er mit seinem Bruder auf gutem Fuß stehen, damit er Teil der Gesellschaft sein kann. Zum anderen aber will er, der Bösewicht, seine wahre Natur nicht ver­weigern: Er sagt „it must not be denied but I am a plain-dealing villain“. Aufgrund von dieser Zwiespältigkeit fühlt er sich wie in einem Käfig gefangen: „Enfranchised with a clog“, durch ein Hemmnis befreit. Dieser Zwiespalt ist sein Raison d’Être. Er will nichts Anderes als sich gegen seinen Bruder zu stellen, aber gleich­zeitig braucht er ihn und seine Legitimität, um seine Freiheit zu behalten. Und selbst da, wenn er durch seinen Bruder legi­ti­miert wird, bleibt er immer noch der Bastard. Für immer sein Halbbruder, der Bastard, und nie einfach nur John.

Nun, was hat dieser Bastard der Weltliteratur mit unserem Thema zu tun? Die Frage der Legitimität, der Akzeptanz und Selbstbestimmung scheint mir ein guter Ausgangspunkt zu sein, bei dem wir anfangen können, über die Literatur der post­mi­gran­ti­schen Generation zu sprechen. Die Frage „Wo kommst du wirklich her?“ ist nichts anderes als eine Infragestellung unserer Legitimität. Erst wenn ich durch meine Eltern legi­ti­miert werde („Eigentlich kommen meine Eltern aus Taiwan“), darf ich emp­fangen werden. Ohne zuerst mein Verhältnis zu ihnen erklärt zu haben, scheint mein Dasein ein pein­liches Paradox zu sein. Wenn ich mich weigere, mit diesem Satz das Paradox zu lösen, nehmen sich manche Menschen vor, es für mich zu tun: Auf „Ich bin Chilenin“ folgt „Ach so, du bist hier geboren!“. Wären meine Vorfahren statt aus Taiwan aus einer der ehe­ma­ligen euro­päi­schen Kolonialmächten nach Chile ein­ge­wandert, hätte ich braune Haare und grüne Augen zum Beispiel, wäre es nicht not­wendig gewesen, meine leider irr­tüm­liche Aussage über mich selbst zu berich­tigen. Für Bastarde gibt es keine Selbstbestimmung, nur Befreiung durch ein Hemmnis.

Wie der latein­ame­ri­ka­nische Fall zeigt, werden nicht alle post­mi­gran­ti­schen Menschen für Bastarde gehalten. Aber statt über die herr­schenden Machtasymmetrien zu denken, würde ich lieber zurück zur Literatur kommen. In „Invasionen des Privaten“ schreibt die öster­rei­chische Schriftstellerin Anna Kim:

Anerkennung, der zwangs­läufig Akzeptanz vor­an­gehen muss, ist etwas, das uns leicht ver­wehrt werden kann (und immer wieder wird). Identität in unseren Augen ist weniger eine Schnittstelle zwi­schen Subjekt und Gesellschaft als vielmehr eine
Bedrohung —

(Kim 2011, S.38)

Alle Bastarde erleben diese Bedrohung. Anders als in Deutschland konnte ich in Chile die emo­tionale Wirkung der Frage weder igno­rieren noch akzep­tieren. In Deutschland kam es auf einen prag­ma­ti­schen Umgang mit meinen Mitmenschen. Zu Hause aber ging es um Zugehörigkeit. Dort schien mir jede Begegnung, sich um die zer­brech­liche Anerkennung zu drehen. Vom Fahrkarten am Kiosk kaufen bis die Nachbarin im Aufzug begrüßen, erlebte ich die Bedrohung, tag­täglich eine Begründung meiner Existenz liefern zu müssen. Dieses Gefühl nehme ich als Grundlage eines Plädoyers für eine Poetik der Bastarde der Globalisierung.

Zweiter Aufzug
Bastarde der Globalisierung

„Bastarde der Globalisierung“ ist der Titel des zweiten Bandes von Yellow Press, der Anthologie von kori­en­tation, die aus einer „Auswahl von Artikeln von zumeist KoreanerInnen der zweiten Generation“ besteht (S. 6). Der Titel selbst wurde aus dem Artikel „Punk Rock In Gelb-Weiß“ von Ilhan Özgen genommen, „in dem er betont, weder Halbkoreaner noch Halbtürke zu sein. „Ich sehe mich eher als einer der zahl­losen Bastarde der Globalisierung, die nicht wissen, was sie sind.“ (S. 7). Ich würde gerne ver­suchen, an dieses Weder-noch-sein im Rahmen der hin­ter­fragten Legitimität her­an­zu­gehen. Bastarde der Globalisierung sind Menschen, deren Existenz und Dasein in der Regel immer wieder über rela­tional bestimmte Legitimationsprozessen hin­ter­fragt und geprüft aber nie eigen­ständig aner­kannt werden. Denken wir zurück an den Fall von John the Bastard. Hier scheinen mir Fragen wie „Wo kommst du wirklich her?“ eine Art Hinterfragen der Legitimität zu sein oder auch eine nor­ma­li­sie­rende Strategie, die dazu dient, die Illegitimität der Person, des Weder-dies-noch-jenes-seins, vom Bastard selbst bestätigt zu bekommen, damit die Ordnung der Welt wie­der­her­ge­stellt werden kann. Identität ist eine Bedrohung, wie Kim sagt, für die Bastarde, weil unsere Existenz die hege­mo­nische, m.E. impe­ria­lis­tische Weltordnung bedroht. Dieser Weltordnung nach gebe es keine „HalbkoreanerInnen“, keine „HalbtürkInnen“ und auch keine ChilenInnen, die wie ich aus­sehen, weil sie nicht zu der aner­kannten Rassen der jewei­ligen Weltregion gehören. Globalisierung in der Form von Warenhandel, Tourismus und Ausbeutung ohne Grenzen schon.

Da unter­scheiden wir uns von unseren Eltern, denn selbst wenn die domi­nante Gesellschaft ihre Identität hin­ter­fragt, haben unsere Eltern vor der Auswanderung kein Hinterfragen der Zugehörigkeit und Identität auf dieser Ebene erlebt. Dahingegen müssen sich die Bastarde der Globalisierung von Geburt an auf deren Verhältnis zu einem legi­timen Prince of Arragon stützen, zu unseren Eltern, um die einzige Art von gesell­schaft­licher Akzeptanz zu erringen, die sie zu erreichen erhoffen dürfen: Die Anerkennung ohne Anspruch auf Selbstbestimmung. Wenn ich gefragt werde, woher ich wirklich her­komme, wird die gesell­schaft­liche Akzeptanz meiner Existenz ver­weigert, bis ich mein Verhältnis zu meinen legi­timen, sprich der ras­sis­ti­schen Weltordnung kon­formen Vorfahren wie ein Ausweis vor­ge­zeigt habe. Erst dann ist es sittlich, mich zu empfangen.

Ich denke aber, dass selbst wenn der Bastard die legi­ti­mie­rende Antwort gibt, bleibt eine Unzufriedenheit in uns zurück, oder viel­leicht hoffen wir in solchen Momenten, eines Tages keinen Beißkorb mehr zu brauchen. Die Hoffnung, dass es einen Weg für die Bastarde der Globalisierung gibt, sich von der uner­reich­baren aber not­wen­digen Legitimität befreien zu können, unter­scheidet uns auch von unseren Eltern.

Literatur als ein mög­licher Weg zur Befreiung ist das Hauptthema von diesem Beitrag. Wie bereits erwähnt, geht es hier nicht um einen Bericht über die Literaturen Lateinamerikas, sondern um ein Plädoyer für die Selbstbestimmung der Bastarde der Globalisierung, für die Etablierung einer lite­ra­ri­schen Gattung, die uns von der externen Akzeptanz befreien kann. Hier meine ich weder Exil- noch Migrantenliteratur, zwei Literaturgattungen, wo wir häufig ver­wandte Themen finden. Nehmen wir den deut­schen Autor Martin Hyun als Beispiel, beziehe ich mich auf Narrativen wie „Lautlos – ja, sprachlos – nein. Grenzgänger zwi­schen Deutschland und Korea“ (2008). Im Gegensatz zu „Gebrauchsanweisung für Südkorea“ (2018), wo Hyun sich haupt­sächlich deskriptiv mit dem Herkunftsland seiner Eltern befasst und die Rolle einer Art Brücke für deutsche LeserInnen spielt, beschreibt er einen der Gründe für seine erste Veröffentlichung wie folgt:

Wenn die Sprache und höhere Bildung neben der Einbürgerung alleine Zugang und Gleichstellung in die deutsche Gesellschaft gewähren, haben wir [Deutsche-KoreanerInnen] alle Kriterien erfüllt. Dann würde dieses Buch ohne Bedeutung sein, ein Buch,
das niemand braucht.

(Hyun 2008, S. 21)

Die Notwendigkeit und Bedeutung von Veröffentlichungen wie „Lautlos – ja, sprachlos – nein“ ist erst ein­deutig, wenn man sie im Zusammenhang mit der gesell­schaft­lichen Realität aus der post­mi­gran­ti­schen Perspektive betrachtet, die sich eher mit dem Zugang und der Gleichstellung als mit dem Kulturaustausch aus­ein­an­der­setzt. Darüber hinaus ist eine ent­spre­chende Rezeptionsästhetik unent­behrlich, also dass eine Poetik der Bastarde der Globalisierung gleich­zeitig global lesbar gemacht wird, sodass Chile auch Österreich und Deutschland lesen kann. Dies beginnt mit einem Umdenken der Übersetzung.

Dritter Aufzug
Übersetzung, die Sprache der Kinder

Die Wörter „Tusán“, „Nikkei“ und „Ise“ sind Übersetzungen aus ver­schie­denen ost­asia­ti­schen Sprachen, nämlich Chinesisch, Japanisch und Koreanisch. Statt über das Verhältnis zwi­schen Sprache, Bedeutung und Übertragung zu sprechen, scheint mir eine Unterscheidung zwi­schen der Sprache der Eltern und der Sprache der Kinder besser geeignet zu sein. In den Sprachen der Eltern, bedeuten diese Wörter etwa „hier geboren“, „genea­lo­gisch japa­nisch“ und „zweite Generation“. Wir sehen also, dass in der Sprache der Eltern der Geburtsort, die Nationalität sowie die Nummerierung drei ver­schiedene Möglichkeiten dar­stellen, das Kind sprachlich im Verhältnis zu dem migran­ti­schen Elternteil einzuordnen.

Dennoch werden diese drei Wörter ganz anders in der Sprache der Kinder ver­wendet, oder zumindest besteht die Möglichkeit, sie ganz anders zu lesen. Zwar sind sie Übersetzungen, die zwei­felsohne mit deren Ursprung ver­bunden bleiben, wie der Nachwuchs mit seinem Vorfahren, die aber gleich­zeitig eigene Ausprägungen besitzen und andere Bedeutungen gewinnen. Wir sind letzt­endlich auch nicht ganz unsere Eltern.

土生 日系 이세
tusán nikkei ise

In der Sprache der Eltern bezieht sich die japa­nische Bezeichnung „日系“ auf die erste sowie auf alle wei­teren Generationen, die außerhalb Japan wohnhaft sind. „Nikkei“ in der Sprache der Kinder bezieht sich häufig aus­schließlich auf den Nachwuchs von japa­ni­schen MigrantInnen. Der nikkei und perua­nische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Carlos Yushimito del Valle schreibt:

El término nikkei se emplea, en general, para designar a los sujetos de la herencia japonesa (incluyendo a los de
ascen­dencia mixta, bien por vía materna o bien por vía paterna) nacidos fuera de Japón. 

(Yushimito 2017, S. 292, 4. Fußnote)

[Die Bezeichnung nikkei bezieht sich generell auf Personen japa­ni­scher Abstammung (ein­schließlich mütterlich- oder väter­li­cher­seits), die außerhalb Japans geboren sind.]

Die cha­rak­te­ris­tische Besonderheit dieser Wörter ist, dass ihnen neue Bedeutungen sowie Verwendungsformen zuge­schrieben werden (können). Wir haben die Möglichkeit, ihre seman­tische Eigenständigkeit zu legi­ti­mieren, statt sie als Ableitungen von einem ursprüng­lichen Original, die einfach in eine andere Sprache über­tragen werden, zu betrachten. Indem wir „Tusán“, „Nikkei“ und „Ise“ bewusst als eigen­ständige Wörter gelten lassen, die ohne einer ursprüng­lichen Sprache anzu­ge­hören legitim sein können, bewirken wir eine kreative Transformation. Aus der Bewegung zwi­schen zwei Sprachsystemen ent­steht (kreativ) etwas Neues (trans­for­mativ), das zwar einer oder meh­reren Quellen her­vorgeht aber in einem völlig anderen System eine völlig andere Rolle zu spielen hat. „Ise“ stammt aus dem Koreanischen „이세“, aber sie sind kei­neswegs iden­tisch. Während „이세“ sich auf das korea­nische Sprachsystem beschränkt, ist das Wort „Ise“ in anderen Sprachen lesbar. Das heißt, dass es neue und kon­krete Verwendungsformen innerhalb des neuen Systems benötigt, zum Beispiel Rechtschreibung („Ißä“ oder „Isse“?) und Grammatik (Klein- und Großschreibung, Kasus und Beugung?). Die schrift­liche Romanisierung als ein trans­for­ma­tiver und krea­tiver Prozess ist eine der Spuren, an dem man die Sprache der Bastarde der Globalisierung erkennen kann.

Dabei ist mein Ziel kei­neswegs die regio­nalen und his­to­ri­schen Unterschiede außer Acht zu lassen. Diese drei Wörter können in unter­schied­lichen Konstellationen mit unter­schied­lichen Bedeutungen auf­ge­laden sein. Während „土生“ zum Beispiel auch in Südostasien bekannt ist, findet man das Wort „Tusán“ über­wiegend wenn nicht aus­schließlich in Peru. Und zwar scheint das Wort keine pho­ne­tische Ableitung vom Hochchinesisch zu sein, oder zumindest ent­spricht es keinen der staatlich aner­kannten Romanisierungsformen des Hochchinesischen (zum Beispiel „T’u Sheng“). Vermutlich handelt es sich also um eine Romanisierung von einer der Sprachen im Südosten Chinas, denn aus dieser Region stammte die Mehrheit der ersten MigrantInnen, die im 19. Jahrhundert nach Peru ein­ge­wandert sind. Staatlich aner­kannte Sprachen und Romanisierungssystemen sind nicht in der Lage, die Geschichte aus diesem Blickwinkel zu erzählen, eben weil sie eine uni­versale Geltung bzw. keine kon­krete Zielsprache haben sollen. Die Romanisierung „T’u Sheng“ ist weder Hochchinesisch noch Spanisch, während „Tusán“ die Geschichte Perus in meh­reren Sprachen, in der Sprache der Kinder erzählt.

Die Sprache der Kinder erzählt uns also eine meistens inof­fi­zielle Geschichte der Globalisierung, die darüber hinaus stark von Emotionen geprägt ist. Genau dies ist der Fall mit dem Wort „Gaijin“. Ins Deutsche über­tragen heißt das japa­nische Wort etwa „AusländerIn“, aber in dieser Zeichenform und in diesem Zusammenhang hat das Wort „Gaijin“ eher mit der Problematisierung der eigenen Zugehörigkeit zu tun. Nicht ohne Grund tragen die Romane von zwei ver­schie­denen nikkei Autoren aus ver­schie­denen Ländern und Generationen den gleichen Titel: „Gaijin“ von Augusto Higa aus Peru (geb. 1946) und „Gaijin“ von Maximiliano Matayoshi aus Argentinien (geb. 1979).

Alle vier Wörter, „Tusán“, „Nikkei“, „Ise“ und „Gaijin“, gelten als Fremdwörter in dem deut­schen sowie in dem spa­ni­schen Sprachsystem, weshalb sie häufig in Anführungszeichen gesetzt oder kursiv geschrieben werden. Auf Spanisch schreibe ich sie bewusst ohne solche schrift­liche Differenzmarkierungen, die auf die Fremdheit des Begriffes hin­weisen. Für mich ist das eine kleine poli­tische Aktion, die darauf zielt, diese Wörter in ihrer schrift­lichen Form zu nor­ma­li­sieren, denn die spa­nische Sprache gehört mir auch. Die Stadt Santiago und das Land Chile sind auch meine Stadt und mein Land. Dementsprechend muss meine Sprache meine Lebensrealität, an der meine tusán, nikkei und ise chi­le­ni­schen Mitmenschen teil­haben, wider­spiegeln können. Ein ähn­liches Prinzip hat die Aktivistin und Schriftstellerin Cherríe Moraga, eine der bedeu­tendsten Figuren der femi­nis­ti­schen Bürgerrechtsbewegung der mexi­ka­ni­schen Diaspora in den U.S.A., in dem Vorwort ihres Buches „A Xicana Codex of Changing Consciousness“ wie folgt beschrieben:

Spanish words are neither trans­lated nor ita­li­cized (unless for emphasis) in order to reflect a bilingual Xicana sen­si­bility. No glossary is pro­vided, since most readers, if they do not have some basic know­ledge of Spanish, will easily be
able to find a Spanish dictionary.

(Moraga 2011, S. xxii)

[Spanische Wörter werden weder über­setzt noch kursiv geschrieben, außer wenn sie betont werden, um ein zwei­spra­chiges xicana Bewusstsein wider­zu­spiegeln. Kein Glossar ist vor­handen, da die Mehrheit der LeserInnen ein spa­ni­sches Wörterbuch pro­blemlos finden können, wenn sie über keine grund­le­genden Spanischkenntnisse verfügen.]

In diesem deutsch­spra­chigen Beitrag werde ich auf die Differenzmarkierung von den Adjektiven „tusán“, „nikkei“ und „ise“ ver­zichten, um alle LeserInnen, denen die deutsche Sprache auch gehört, ein­zu­laden, sich eine ver­gleichbare Aktion im deutsch­spra­chigen Raum vor­zu­stellen. Letztendlich dürfen viele Fremdwörter wie „sup­porten“, „abchecken“ und „inter­viewen“ diesen figu­ra­tiven Raum betreten. Warum auch nicht „gaijin“? Oder gilt das nur für Anglizismen? Was für eine Türpolitik führt die deutsche Sprache?

Lass uns zurück zu unseren Gefühlen und unseren Eltern. In einem Interview aus dem Jahre 2014 spricht Anna Kim über eine „emo­tionale Bindung“ zu ihrer Muttersprache, die nicht ihre erste Sprache sei:

Der Wechsel der Muttersprache muss meiner Meinung nach kurz davor oder in den ersten Volksschuljahren pas­siert sein, zeit­gleich mit einer Verschiebung der Identität. […] Ab dann wurde das Deutsche immer domi­nanter und seit damals ist es die domi­nante Sprache, meine erste Sprache. Muttersprache nenne ich das Deutsche nach wie vor nicht, da ich eine emo­tionale Bindung zum Koreanischen habe. Es ist ganz eigen­artig: Wenn immer meine Mutter bestimmte korea­nische Wörter sagt, die ich als Kind immer wieder gesagt bekommen habe, spüre ich eine Verbundenheit, die ich sogar Heimatgefühl nennen würde, aller­dings nur
mit ein­zelnen Wörtern, nicht mit der ganzen Sprache.

(Kim 2014, S. 136)

Eine ähn­liche emo­tionale Bindung zur Sprache finden wir in dem Roman „Mongolia“ von der tusán perua­ni­schen Autorin Julia Wong Kcomt. In ihrem Roman geht es um eine Protagonistin namens Belinda, die nach dem Tod ihres Vaters von Peru nach Macau zieht, wo sie eine Wohnung geerbt hat. Für Belinda hat die Sprache ihres Vaters vor allem mit ihren Emotionen zu tun.

Tampoco tenía inten­ciones de aprender cor­rec­ta­mente ni chino ni por­tugués. […] Mi voca­bu­lario escueto solía con­ver­tirse en ora­ciones acertadas para no pasar hambre. Pero ¿a quién le podía importar?, al único ser humano que le pudo importar ya no
estaba, ¿para qué hablar otro idioma, para qué hablar chino? ¿para quién? 

(Wong 2015, S. 26)

[Ich hatte es auch nicht vor, weder Chinesisch noch Portugiesisch ordentlich zu lernen. […] Mein spär­liches Vokabular hat sich meistens in Sätze gewandelt, die lediglich dazu dienten, nicht zu ver­hungern. Aber für wen wäre es wichtig? Der einzige Mensch, dem es wichtig sein könnte, war nicht mehr da. Wozu eine andere Sprache sprechen, wozu Chinesisch sprechen? Für wen?]

Selbst wenn wir sie nicht sprechen können, spüren wir die Sprache. Sie ist nicht nur ein Kommunikationsmittel, viel mehr spielt die Sprache der Kinder eine affektive Rolle in unserem Leben. Für uns hat der Begriff „Muttersprache“ vielmehr mit emo­tio­nalen Bindungen als mit Sprachkenntnissen zu tun.

Ein wei­teres Beispiel finden wir in der Veröffentlichung „Mudas las garzas“ der mexi­ka­ni­schen Schriftstellerin Selfa Chew. In einigen von ihren Vorträgen und Interviews erzählt sie, dass ihr Vater aus der kan­to­ne­si­schen Region Chinas nach Mexiko ein­ge­wandert war bzw. dass sie müt­ter­li­cher­seits aus einer „Mixteca“-Familie, einer der indi­ge­ni­schen Bevölkerungen in Mexiko, stammt. Als Kind sei sie zusammen mit einer japa­ni­schen Familie im Norden Mexikos auf­ge­wachsen. „Mudas las garzas“ ist eine Mischung aus Prosa, Dichtung, Fotografien und Interviews sowie wahren und fik­tio­na­li­sierten Erzählungen, die den ver­nach­läs­sigten Geschichten der zahl­reichen JapanerInnen und nikkei MexikanerInnen, die während des zweiten Weltkriegs ver­folgt, fest­ge­nommen und abge­schoben wurden, kol­lektiv eine nar­rative Stimme gibt. Besonders inter­essant für uns ist ein kurzer Satz auf Seite 24, wo ein Kind mit seiner Mutter spricht.

Okasan, no me importará si los otros se burlan de mí, comeré sus tri­an­gu­litos de onigiri en el recreo y le llamaré siempre „okasan“, aunque sepa decir también „madre“, „mamá“ y „ternura“.
(Chew 2007, S. 24)

[Okasan, egal wenn sich die Anderen über mich lustig machen, ich werde Ihre Onigiri-Dreieckchen in der Pause essen und Sie immer „Okasan“ nennen, selbst wenn ich auch „Mutter“, „Mama“ und „Zärtlichkeit“ sagen kann.]

Hier finden wir wieder die emo­tionale Bindung zur Sprache. Wir sehen die Übersetzung als Sprache der Kinder; wir sehen einen Versuch, über der Sprache mit dem Anderssein umzu­gehen. Dieses emo­tionale Verhältnis zur Sprache ist das Hauptmerkmal der Poetik der Bastarde der Globalisierung.

Vierter Aufzug
Verbundenheit

Diese Herangehensweise zur Sprache ermög­licht uns aus emo­tio­nalen Bindungen trans­lin­guale Brücken zu bauen, die unter anderen Umständen nicht hätten ent­stehen können. Insbesondere denke ich an eine Kurzerzählung von Anna Kazumi Stahl. Kazumi ist in den USA geboren und lebt seit meh­reren Jahren in Argentinien, wo sie derzeit als Schriftstellerin, Übersetzerin und Dozentin tätig ist. In „El testigo chino“ insze­niert sie eine Situation in New Orleans, wo es einer japa­nisch­spra­chigen Dolmetscherin gelingt, im Auftrag der Polizei einen schwer­ver­letzten chi­ne­sisch­spra­chigen Zeugen über einen Überfall zu befragen — und zwar schriftlich statt mündlich. Natürlich ist Kazumi nicht der aller­erste Mensch, der es bemerkt hat, dass zwi­schen Japanisch und Mandarin aus­rei­chende Gemeinsamkeiten im Schriftlichen bestehen, um sich eini­ger­maßen gegen­seitig ver­stehen zu können. Aber ich wage es zu behaupten, dass sie die Erste ist, dies auf Spanisch in lite­ra­ri­scher Form darzustellen.

Das erfüllt einen bestimmten Zweck. Da wo ste­reo­ty­pische Gleichsetzungen üblich sind, gelingt es Kazumi, ein Gegennarrativ zu schaffen, das in der Lage ist, eine inter-linguistische Verbindung ohne ras­sis­tische Stereotypen dar­zu­stellen. Nachdem die Dolmetscherin ihm gesagt hat, dass sie nicht mit dem Mann sprechen kann, weil er Chinese ist, ant­wortet der blonde Polizist:

‚Bueno, entonces, háblele des­pacio, señora. Chino, japonés, da lo mismo. Si no, no la hubié­ramos traído, ¿no le
parece?’

(Kazumi 1997, S. 158)

[„Gut, dann sprechen Sie langsam mit ihm. Chinesisch, Japanisch, egal. Sonst hätten wir Sie ja nicht hier­her­kommen lassen, finden Sie nicht?“]

Hier möchte ich ganz kurz auf eine andere Kurzerzählung hin­weisen. In „Partir“ („Abreisen“ oder auch „Aufbrechen“) von der nikkei Argentinierin Alejandra Kamiya wird die fol­gende Szene von der Erzählerin beschrieben:

Los otros chicos se estiraban los ojos con los índices y me decían „china“. Yo les decía que era japonesa y ellos decían
que era lo mismo.

(Kamiya 2008, S. 20)

[Die anderen Kinder zogen sich die Augen mit den Zeigefingern und nannten mich „Chinesin“. Dann sagte ich ihnen, dass ich Japanerin war, und sie sagten, das sei das Gleiche.]

Solche Darstellungen von Rassismuserfahrungen tauchen in wei­teren Texten von tusán, nikkei und ise SchrifttellerInnen auf, wo die Augen als Hauptmerkmal des Andersseins fun­gieren und tusán, nikkei und ise Figuren trotz allen Erklärungen und Argumenten für „Chinesen“ gehalten werden. Ich vermute nämlich, dass diese Fixierung mit China wahr­scheinlich mit der Migrationsgeschichte des Kontinentes zu tun hat. Nachdem die Sklaverei nach und nach in Amerika abge­schafft wurde, haben die euro­päi­schen Kolonialmächte im 19. Jahrhundert hun­dert­tau­sende Menschen haupt­sächlich aus Kanton, aber auch aus den damals spa­ni­schen Philippinen und aus Indien, unter unmensch­lichen Bedingungen über den pazi­fi­schen Ozean in die Häfen in Mexiko, Panama und Peru geschleppt. Die soge­nannten „culíes“ waren die ersten MigrantInnen aus Asien, die in großen Zahlen die Reise überlebt hatten. Sie haben auf den Plantagen in Kuba gear­beitet, sowie die Eisenbahn in Kalifornien und den Panama-Kanal gebaut. Ich bin keine Historikerin und keine Soziologin, aber ich vermute, dass diese ras­sis­tische Stereotypisierung aus diesem ver­nach­läs­sigten Ereignis der Geschichte des Kolonialismus zurück­zu­führen wäre. Ein anderes Beispiel. Eine chi­le­nische Kollegin hat mir vor ein paar Monaten erzählt, dass in den letzten Jahren korea­nische Pop-Musik in unserer Heimat sehr beliebt ist. Sie berichtete, dass K‑Pop Gruppen übli­cher­weise auch als „can­tantes chi­nitos“ (etwa „chi­ne­sische Sänger“, wobei „chi­ne­sisch“ in der männ­lichen Verkleinerungsform ver­wendet wird) bezeichnet werden.

Aber lass uns zurück zu der Dolmetscherin und dem Zeugen springen. Die Tatsache, dass Kazumi auf Spanisch schreibt, scheint mir nicht unwichtig zu sein. Natürlich kann man das Argument her­vor­bringen, dass sie diese Situation für spa­nisch­spra­chige LeserInnen zugänglich macht. Aber ich würde einen Schritt weiter wagen und behaupten, dass sie dadurch Spuren der Sprache der Kinder hin­ter­lässt, die wir aus den Feinheiten ablesen können.

Abrió su cartera y sacó un lápiz y un pedazo de papel. Escribió en ideo­gramas que la lengua japonesa com­parte con la china, a pesar de que hab­ladas no tienen nada que ver, lo sigu­iente: ‚Perdóneme por inco­mo­darlo. ¿Cuándo y dónde recibió las
heridas?’ Con el papel en la mano, se acercó aún más al chico herido y se lo mostró.

Estaba asu­stado, ater­ro­rizado, y con razón. En ese instante silen­cioso, ella, la japonesa, ganó su con­fianza, y él escribió, con gran esfuerzo y dolor: ‚Nueve y media de la noche, a dos cuadras del muelle B’.

La inter­prete tomó el papel e inclinándose hacia la luz de la lámpara, lo descifró. Después, enf­ren­tando a los policías reportó en voz alta: ‚Las heridas que lo están haciendo sufrir tanto ahora, fueron reci­bidas a las vein­tiuna treinta a dos
cuadras del muelle B’.

(Kazumi 1997, S. 158–159)

[Sie öffnete ihre Tasche und nahm einen Stift und ein Stück Papier heraus. In Piktogrammen, die die japa­nische Sprache mit der Chinesischen gemeinsam hat, die aber aus­ge­sprochen nichts mit ein­ander zu tun haben, schrieb sie das Folgende: ‚Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie stören muss. Wann und wo sind Ihre Verletzungen zustande gekommen?’ Mit dem Zettel in der Hand rückte sie dem ver­letzten jungen Mann noch näher und zeigte ihn ihm.

Er war erschrocken, ent­setzt, und zu gutem Recht. In diesem laut­losen Moment gewann sie, die Japanerin, sein Vertrauen, und er schrieb mit großer Anstrengung und Schmerzen: ‚Halb neun abends, zwei Straßen vom Hafen B entfernt‘.

Die Dolmetscherin nahm den Zettel, beugte sich und ent­zif­ferte ihn unter dem Licht der Lampe. Dann wandte sie sich zu den Polizisten und berichtete: ‚Die Verletzungen, die ihm jetzt großes Leiden bereiten, sind um ein­und­zwanzig Uhr dreißig zwei Straßen vom Hafen B ent­fernt zustande gekommen‘.]

In diesem Moment des Schweigens ent­scheidet sich der Zeuge, der japa­ni­schen Dolmetscherin zu ver­trauen, lediglich weil er ihre Sprache erkennt, eine Sprache, die er selbst aber nicht spricht. Aus dieser emo­tio­nalen Reaktion ent­steht eine Art Halbsprache. Diese emo­tionale Bindung, dieses plötz­liche Vertrauen wäre viel­leicht anders oder gar nicht möglich gewesen, wenn die Erzählung nicht an einem Ort statt­ge­funden hätte, wo beide Figuren eine Fremdsprache als Muttersprache sprechen würden. Die emo­tionale Verbundenheit, die die Sprache evo­zieren kann, selbst wenn sie keine legitime Sprache ist und lediglich als Halbsprache oder Übersetzung exis­tiert, ist die Pointe, die ich betonen möchte.

Was uns ver­traut ist, was wir erkennen, ist immer relativ zu dem, was uns ent­fremdet. Und gleich­zeitig ist es eine bewusste Entscheidung, unserem Gegenüber zu ver­trauen und uns selber in anderen Menschen zu sehen. Zusammen betrachtet zeigen uns Kazumi und Kamiya, dass Rassifizierung und Solidarität zwei Handlungsmöglichkeiten unter ähn­lichen Bedingungen sind, sowie die drin­gende Notwendigkeit von Gegennarrativen, die uns durch die Sprache emo­tional ver­binden können.

Fünfter Aufzug
Welt, Globus, Universum

Am Ende der Erzählung ruft Kazumis Dolmetscherin, Michiko Yamashita, bei der Zeitung an, um ihre Anzeige zurück­zu­ziehen, worauf ihr Gesprächspartner, so der Erzähler oder die Erzählerin, am Rande eines Zettels den Namen „Michaki Yamata“ auf­schreibt. Ich muss gestehen, dass ich ganz laut gelacht habe, als ich den Schluss der Erzählung zum ersten Mal gelesen habe. Ich dachte an meine zwei Namen und an alle Menschen, die sich allzu offen­sichtlich über die Tatsache gefreut haben, dass ich auch einen spa­ni­schen Namen hatte. Warum gibt man sich so wenig Mühe? Wenn ich mir die Namen von allen meinen Verwandten in Taiwan merken kann, sind die zwei Silben „Puo“ und „An“ sicherlich keine Herkulesaufgabe. Michiko hätte den Auftrag sofort absagen können. Nein, Japanisch und Chinesisch sind nicht das Gleiche. Warum hat sie sich also die Mühe gegeben? Unter welchen Bedingungen lohnt sich der Aufwand?

Wir werden immer enger mit­ein­ander ver­netzt, aber die Globalisierung heißt bei Weitem nicht, dass alle Menschen die Welt gleich erleben, dass es uni­versal gel­tende Werte gibt, die in den lite­ra­ri­schen Werken von Shakespeare oder von Neruda in allen über­setzten Ausführungen zu finden sind. Vielmehr finde ich, dass wir als LeserInnen aus ihren Werken bestimmte Narrativen ablesen, die einen Rahmen für die Lesbarkeit unserer eigenen Welt bieten. Wir können uns alle in John the Bastard wie­der­finden, wenn wir uns die Mühe geben.

Und wenn es einem Engländer im 16. Jahrhundert gelingt, alle Träume und Weisheiten der Welt in seinen eng­lisch­spra­chigen Werken dar­zu­stellen, sodass ein Chilene ihn vier hundert Jahre später auf Spanisch als den wich­tigsten Dichter seiner Zeit feiert, könnten sich die Tusanes, Nikkeis, Ises und alle migran­ti­sierten Menschen der Welt nicht über eine Poetik der Bastarde der Globalisierung soli­da­ri­sieren, um uns selber zu legi­ti­mieren? Wenn die gel­tende Weltordnung uns nicht aner­kennen kann oder will, ist es nicht not­wendig, uns ein Universum vor­zu­stellen, wo wir selbst über unseren Namen ent­scheiden dürfen?

Exeunt
Literaturverzeichnis

Chew, Selfa, Mudas las garzas, Ediciones Eón 2007.

Hyun, Martin, Lautlos – ja, sprachlos – nein. Grenzgänger zwi­schen Korea und Deutschland, EB-Verlag 2008.

Kamiya, Alejandra, „Partir“, in: Los que vienen y los que se van. Historias de inmi­grantes y emi­grantes en la Argentina, Fundación Banco Ciudad 2008.

Kazumi Stahl, Anna, Catástrofes natu­rales, Editorial Sudamericana Buenos Aires 1997.

Kim, Anna, „Ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, wenn man eine Heimat hat“, in: Schwens-Harrant, Brigitte (Hg.), Ankommen, Styria Premium 2014, S. 127–168.

Kim, Anna, Invasionen des Privaten, Literaturverlag Droschl 2011.

kori­en­tation e.V. (Hg.), Bastarde der Globalisierung, Yellow Press – Band 2, kori­en­tation Berlin 2012.

Neruda, Pablo, „Inaugurando el año del Shakespeare“, in: Zeran Chelech, Faride (Hg.), Anales de la Universidad de Chile, Band 129 Januar – März, Universidad de Chile 1964, S. 5–18.

Moraga, Cherríe, A Xicana Codex of Changing Consciousness, Duke University Press 2011, S. xxi-xxii.

Shakespeare, William, Much Ado About Nothing, Signet Classic 1998.

Wong, Julia, Mongolia, Animal de Invierno 2015.

Yushimito del Valle, Carlos, „Archivos mar­gi­nales de la per­te­nencia: repre­sent­a­ciones del sujeto nikkei en La casa verde y la ilumi­nación de Katzuo Nakamatsu“, in: García Liendo, Javier (Hg.), Migración y frontera: expe­ri­encias cul­tu­rales en la lite­ratura peruana del siglo XX, Vervuer