Ein kalter Fall: Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen als institutionalisierter Rassismus

Kien Nghi Ha (Asian German Studies, Universität Tübingen)

Vom 22. bis 24. August 2023 erschien auf MiGAZIN in einer mehr­tei­ligen Artikelserie diese stark erwei­terte Fassung des Buchkapitels „Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen als insti­tu­tio­na­li­sierter Rassismus“. In: Gudrun Heinrich/David Jünger/Oliver Plessow/Cornelia Sylla (Hrsg.): Perspektiven aus der Wissenschaft auf 30 Jahre Lichtenhagen 1992. Berlin: Neofelis, im Erscheinen 2023. Der Text basiert auf einen Vortrag am 21.06.2022 im Rahmen der Reihe „Perspektiven aus der Wissenschaft auf 30 Jahre Lichtenhagen 1992“ an der Universität Rostock. Wir prä­sen­tieren hier die leicht über­ar­beitete finale Fassung vom 25. August 2023 mit erwei­terten visu­ellen Kontextualisierungen.
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24.08.1992: Das Sonnenblumenhaus brennt nach Tagen der Belagerung mit über 100 ein­ge­schlos­senen viet­na­me­si­schen Bewohner:innen [Foto: MDR]

Das Pogrom im tiefenhistorischen Kontext: Anti-Asiatische Aspekte des systemischen Rassismus

Um das Rostocker Pogrom von 1992 in grö­ßeren his­to­ri­schen Zusammenhängen zu ver­stehen und ein­zu­ordnen, ist es nötig, seine Bedeutung in der modernen Geschichte des Rassismus in Deutschland her­aus­zu­ar­beiten. Grundlegend lässt sich zunächst fest­stellen, dass die Geschichte des anti-Asiatischen1 Rassismus in Deutschland nicht mit diesem Pogrom beginnt. Vielmehr ist seine Historie mit der deut­schen Kolonialgeschichte ver­woben, die ihrer­seits in die euro­päische Geschichte der Kolonialisierung der Welt ein­ge­bettet ist. So ver­weist der ‚Fidschi‘-Begriff als abwer­tende Bezeichnung für süd­ost­asia­tische, vor allem viet­na­me­sische, Vertragsarbeiter:innen in Ostdeutschland in Analogie zur ras­sis­ti­schen Bezeichnung ‚Kanake‘ in Westdeutschland auf kolo­niale Kontexte.2 Deutschland war als Kolonialmacht im pazi­fi­schen Raum präsent und die ‚Südsee‘ stellt nach wie vor eine bedeutsame Kulisse des kolonial gefärbten Exotismus in west­lichen Diskursen dar. Selbst wenn direkte Verbindungen zu kolo­nialen Praktiken wie etwa der Inbesitznahme des ‚deut­schen Schutzgebietes Kiautschou‘ (1898–1919) in Nordchina oder zur bru­talen Niederschlagung der chi­ne­si­schen Yìhétuán (1899–1901)3 durch das vom Wilhelm II. ent­sandte Ostasiatische Expeditionskorps nicht nach­weisbar sind, ist davon aus­zu­gehen, dass durch diese Ereignisse wichtige Elemente des kolo­ni­al­ras­sis­ti­schen Wissens in Deutschland über China und Chines:innen geschaffen und repro­du­ziert wurden. Dabei wurde dieses dis­kri­mi­na­to­rische und ras­si­fi­zierte Wissen ver­all­ge­meinert und auf andere Asiatische, spe­ziell Ostasiatische Menschen, Kulturen und Länder über­tragen.4 Die mit diesen kolo­nialen Bildern und Perspektiven ein­her­ge­henden poli­ti­schen, his­to­ri­schen, sozio­kul­tu­rellen und visu­ellen Diskurse wurden zunächst etwa durch Zeitungen5 und später durch andere Massenmedien wie etwa Bücher und Filme popu­la­ri­siert, tra­diert und auch aus­ge­weitet.6 Diese medialen und kul­tu­rellen Reproduktionen setzen letztlich mit anderen Akzentsetzungen und tech­nisch aus­ge­feil­teren Bildern einen ste­reo­typen Diskurs fort, der im ideen­ge­schicht­lichen Zentrum der Weißen Vorstellung von moderner Kolonialität steht: Deutsche Professoren wie Imanuel Kant (1723–1804), Christoph Meiners (1747–1810) und Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) hatten als füh­rende Vertreter einen bedeu­tenden Anteil an der phi­lo­so­phi­schen wie natur­wis­sen­schaft­lichen Etablierung von Rassentheorien als Grundaxiom der Welt. Ihre Tatsachenbehauptungen waren maß­geblich bei der kogni­tiven Erfindung von unter­schied­lichen und bio­lo­gisch unter­scheid­baren ‚Menschenrassen‘ beteiligt, die als ‚Gelbe, Rote, Schwarze und Weiße‘ ima­gi­niert und in Rückkoppelung mit der expan­siven außer­eu­ro­päi­schen Kolonialisierung zunehmend streng gesell­schaftlich wie wis­sen­schaftlich hier­ar­chi­siert wurden.7 Wenn diese his­to­ri­schen Kontexte und epis­te­mo­lo­gische Betrachtungsweise ernst genommen werden, dann wird sichtbar, dass das Pogrom in Rostock sich vor dem Hintergrund eines viel tie­fer­ge­henden sys­te­mi­schen Rassismus abspielt. Aus Raumgründen werde ich mich in meiner Fallanalyse jedoch auf die Ebene des insti­tu­tio­nellen Rassismus beschränken.

Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen im Kontext der rassistischen Gewalt seit den 1980er-Jahren

Anti-Asiatische Gewalt ist ein bedeut­sames Element des Rassismus in Deutschland, die wichtige Wegmarkierungen in seiner Entwicklung prägen. Dabei fällt die struk­tu­relle Entinnerung des anti-Asiatischen Rassismus als kalte Fälle und ver­gessene Geschichte ins Auge. So wurden am 22. August 1980 die beiden jungen viet­na­me­si­schen Boat People Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu kurz nach ihrer Aufnahme als Geflüchtete in der Halskestraße in Hamburg-Billbrook von orga­ni­sierten Rechtsextremist:innen der „Deutschen Aktionsgruppen“ bei einem Brandanschlag ermordet. Die beiden Vietnamesen gelten in West-Deutschland als die ersten poli­zeilich doku­men­tierten und gerichtlich nach­ge­wie­senen ras­sis­ti­schen Mordopfer seit 1945. Eine weitere Besonderheit dieses Falls ergibt sich zudem aus der erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Umgangsweise der deut­schen Gesellschaft und seiner poli­ti­schen, medialen, kul­tu­rellen und wis­sen­schaft­lichen Institutionen: Im Unterschied zu anderen ras­sis­ti­schen Mordfällen wurde das offi­zielle Gedenken nicht nur mar­gi­na­li­siert, sondern es wurde entinnert.8 Nach ihrer Beerdigung wurde selbst in den lokalen Medien bis 2012 nicht mehr über diese Geschichte berichtet,9 so dass mit der Zeit auch das Wissen in der Zivilgesellschaft kom­plett zum Verschwinden gebracht wurde. Dies ist umso bemer­kens­werter, da die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit den damals 17-jährigen Đỗ Anh Lân als Schutzbefohlenen in einer von ihr gespon­serten Hilfsaktion in die Hafenmetropole gebracht hatte und daher in einer beson­deren Verantwortung steht.10

Wie die Hamburger Morde ist auch das Rostocker Pogrom gegen die viet­na­me­sische Community und asyl­su­chende Roma-Familien in viel­fäl­tiger Weise mit anderen Geschichten des deut­schen Rassismus und Rechtsextremismus ver­bunden. Als Beispiel möchte ich hier nur auf den bis heute sträflich ver­nach­läs­sigten und auch daher unauf­ge­klärten Brandanschlag vom 26. August 1984 in Duisburg-Wannheimerort ver­weisen, bei dem sieben Mitglieder der Familie Satır starben. Die zeit­liche Koinzidenz der Ereignisse Hamburg, Duisburg and Rostock ver­weisen auf poli­tische Zusammenhänge, die diese Tatorte und Communities mit­ein­ander ver­binden. Obwohl die Angriffe in Rostock-Lichtenhagen als größtes Pogrom seit dem Niedergang des NS-Staates 1945 einen außer­or­dent­lichen Stellenwert in der deut­schen Geschichte hat, lässt sich seine wirk­liche gesamt­ge­sell­schaft­liche und his­to­rische Bedeutung nur im Zusammenhang mit anderen Geschichten des struk­tu­rellen Rassismus und der all­täg­lichen Diskriminierungen begreifen. Bereits beim Fall der Berliner Mauer setzte eine heute nahezu unbe­kannte Gewaltwelle orga­ni­sierter Rechtsextremist:innen ein: In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990 griffen vor­sichtig geschätzt etwa 1.500 gewalt­tätige Neo-Nazis in min­destens 14 ost­deut­schen Städten linke Projekte und alles „Undeutsche“ an. Mit diesem Paukenschlag wurden die an einigen Orten bis heute andau­ernden Baseballschlägerjahre (Christian Bangel) ein­ge­läutet. In dieser Nacht wurden auch Migrant:innen und Linke in der Hamburger Hafenstrasse von 300 Rechten ange­griffen. In diesem Kontext gehören nicht nur die vor­an­ge­gan­genen Pogrome in Hoyerswerda (September 1991) oder in Mannheim-Schönau (Mai/Juni 1992), wo wie in Lichtenhagen Wohnheime für ehe­malige Vertragsarbeitende und Geflüchtete ange­griffen wurden,11 sondern auch die nach­fol­genden ras­sis­ti­schen Morde an türkisch-deutschen Familien etwa in Mölln (November 1992) und Solingen (Mai 1993). Auch der nicht wirklich auf­ge­klärte Brandanschlag in der Lübecker Hafenstraße vom 18.01.1996 mit zehn Toten, dar­unter sieben Kinder, und 38 Verletzten gehört in diese Reihe. Neben anderen ras­sis­ti­schen Gewalttaten reicht dieses his­to­rische Kontinuum über die NSU-Morde (2000–2006) gegen die deutsch-türkische Community bis zum jüngsten rechts­ter­ro­ris­ti­schen Anschlag in Hanau (Februar 2020).

Was ist ein Pogrom und was ist institutioneller Rassismus?

Wenn nach diesen Annäherungen der Fokus auf das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen her­an­ge­zoomt wird, stellt sich eine weitere grund­le­gende Frage: Welche Bezeichnung ist für dieses Ereignis sachlich korrekt und ange­messen. Je nach Antwort werden ganz unter­schied­liche poli­tische, juris­tische und wis­sen­schaft­liche Kategorisierungen mobi­li­siert. Obwohl objektive Sachverhalte ent­scheidend sein sollten, spielen gesell­schaftlich wirksame Deutungen und domi­nante Interpretationen eine zen­trale Rolle. Die Frage der Benennung kann daher nicht von Fragen des Framings, also der sozialen und kul­tu­rellen Bedeutungskonstruktion und ‑zuweisung abge­trennt werden. Bei der Bedeutungsgebung stehen sich oftmals gegen­sätz­liche Perspektiven mit ungleichen Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber, wobei die Interessen von ver­schie­dentlich betei­ligten Gruppen und betrof­fenen Individuen unter­schiedlich ein­fluss­reich sind. Wie alle gesell­schaft­lichen Bedeutungsgebungen reflek­tieren und reprä­sen­tieren vor­herr­schende Bezeichnungen gesell­schaftlich rele­vante Machtverhältnisse, die kul­tu­relle Hegemonie pro­du­zieren und durch­setzen kann. Vor diesem Hintergrund ist es bedeutsam, dass die ras­sis­tische Gewalt nicht nur im poli­ti­schen Diskurs, sondern auch in den Medien über Jahrzehnte hinweg meist ver­harm­losend als Krawalle, Randale, Übergriffe oder allen­falls als Ausschreitungen bezeichnet, häufig legi­ti­mierend auch als Protest oder natu­ra­li­sierend als Explosion beschrieben wurden. Der Begriff „Pogrom“, der von Anfang an von anti-rassistischen Gruppen ver­wandt wurde,12 wurde dagegen lange Zeit im Mainstream-Diskurs als „links­extrem“ abge­stempelt und gesell­schaftlich mar­gi­na­li­siert. An der (Be-)Deutung und Aufarbeitung der ras­sis­ti­schen Angriffe von Lichtenhagen als Pogrom hatten – von ver­ein­zelten Ausnahmen abge­sehen – weder Politik und Medien vor Ort noch bun­desweit ein erkenn­bares Interesse.13 Die ton­an­ge­bende Wahrnehmung mit ihrem beschränkten Meinungskorridor hat sich im Zuge der ver­stärkten Kritik an den Blindstellen und Ausschlüssen im öffentlich zele­brierten Gedenken, die zum 20. Jahrestag bun­desweit besonders stark wahr­ge­nommen wurde,14 langsam gewandelt und ist inzwi­schen plu­raler geworden. 

Am 25. August 2012 sprach Kien Nghi Ha auf der Abschlusskundgebung des anti-rassistischen Kulturfestivals „Beweg dich für Bewegungsfreiheit” vor dem Sonnenblumenhaus zum Gedenken des Pogroms in Rostock-Lichtenhagen von vor 20 Jahren.

Wichtige Impulse dafür lie­ferte auch die auf­kom­mende Rassismuskritik seit 2011 am insti­tu­tio­nellen, medialen wie gesell­schaft­lichen Umgang mit der ver­schleppten Aufdeckung des NSU-Skandals.15 Der bun­desweit auf­se­hen­er­re­gende Terroranschlag in Hanau und die globale Black Lives Matter-Bewegung 2020 haben diesen Bewusstwerdungs- und Anerkennungsprozess nochmals ver­stärkt. Diese Entwicklungen haben zur Ausbildung einer kri­ti­schen Masse bei­getragen, sodass in vielen gesell­schaft­lichen Bereichen Rassismus inzwi­schen nicht mehr wie früher als ‚Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit‘ ver­brämt wird. All das hat sicherlich dazu bei­getragen, dass der Pogrombegriff im Fall „Rostock-Lichtenhagen“ heute weniger geächtet ist. Für viele Beobachtende über­ra­schend, hat selbst die Stadt Rostock in offi­zi­ellen Mitteilungen zum 30. Jahrestags die ras­sis­tische Gewalt als Pogrom aner­kannt.16 Damit schloss sich die Stadt dem Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags an, der die Ereignisse in Rostock-Lichtenhagen als „die größten ras­sis­tisch und frem­den­feindlich moti­vierten Angriffe gegen Angehörige einer eth­ni­schen Minderheit in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges“17 cha­rak­te­ri­siert. Neben den ras­sis­ti­schen Angriffen in Hoyerswerda (September 1991)18 wird Rostock-Lichtenhagen als zen­trales Fallbeispiel dis­ku­tiert, wobei die Argumente für die Anwendung des Pogrombegriffs breiten Raum erhalten und von den Autor*innen nicht in Zweifel gezogen werden.19

Dieses Eingeständnis ist über­fällig. Denn wer unvor­ein­ge­nommen das ras­sis­tische Großereignis in Rostock-Lichtenhagen betrachtet, kann augen­blicklich drei cha­rak­te­ris­tische Elemente erkennen: Massive Bedrohung und Gewaltausübung der domi­nanten Gruppe gegen eine ras­si­fi­zierte Minderheit, die durch staat­liche Institutionen und ihre Repräsentant:innen tole­riert oder akzep­tiert wird. Vor allem die insti­tu­tio­nelle Komponente ist ent­scheidend und unter­scheidet das Pogrom von anderen Formen ras­sis­ti­scher Gewalt. Das Pogrom wird über­ein­stimmend in der Encyclopædia Britannica als „mob attack, either approved or con­doned by aut­ho­rities, against the persons and pro­perty of a reli­gious, racial, or national minority“ und in der Encyclopedia of Nationalism (2001) als „mobi­lized crowd vio­lence (usually offi­cially encou­raged) against members of a sub­or­dinate cul­tural group“ defi­niert. Obwohl der Begriff ursprünglich auf die his­to­ri­schen Verfolgungen von jüdi­schen Gemeinschaften in Osteuropa ver­wandt wurde, ist er nach Ansicht von füh­renden Antisemitismusforscher:innen wie Werner Bergmann nicht darauf beschränkt.20 Auch lässt sich m.E. nach argu­men­tieren, dass die Suche nach Parallelen und Analogien zwi­schen Rassismus und Antisemitismus hier pro­duktive Erkenntnisse gene­rieren kann. Im Anschluss an das Phänomen des sekun­dären Antisemitismus und des sekun­dären Kolonialismus können sowohl ver­schlei­ernde Entnennungen also auch unzu­rei­chende erin­ne­rungs­po­li­tische, wis­sen­schaft­liche und kul­tu­relle Aufarbeitungen als Fortsetzung des insti­tu­tio­nellen Rassismus ange­sehen werden. Der sekundäre Rassismus kann als nach­fol­gende insti­tu­tio­nelle Diskriminierung ange­sehen werden, in der staat­liche Akteure sich weigern, das Problem sachlich ange­messen zu benennen, unein­ge­schränkt poli­tische Verantwortung zu über­nehmen, die lang­an­hal­tenden Aus- und Nachwirkungen des Pogroms im vollen Umfang anzu­er­kennen und den tat­säch­lichen Opfern ange­messene Entschädigung und Wiedergutmachung anzubieten.

Ich folge hier der im anglo­phonen Raum aner­kannten Definition des insti­tu­tio­nellen Rassismus der Macpherson-Kommission (1999) der bri­ti­schen Regierung:

„The coll­ective failure of an orga­ni­sation to provide an appro­priate and pro­fes­sional service to people because of their colour, culture, or ethnic origin. It can be seen or detected in pro­cesses, atti­tudes and beha­viour which amount to dis­cri­mi­nation through unwitting pre­judice, igno­rance, thought­lessness and racist ste­reo­typing which dis­ad­vantage minority ethnic people. It per­sists because of the failure of the orga­ni­sation openly and ade­quately to reco­gnise and address its exis­tence and causes by policy, example and lea­dership. Without reco­gnition and action to eli­minate such racism it can prevail as part of the ethos or culture of the orga­ni­sation.“21

Besonders her­vor­zu­heben ist, dass nicht Absicht, sondern das Ergebnis insti­tu­tio­nellen Handelns oder Nicht-Handelns ent­scheidend ist. Für das Vorliegen ras­sis­ti­scher Praktiken und Diskriminierungen im insti­tu­tio­nellen Rahmen ist der Nachweis einer dis­kri­mi­na­to­ri­schen Intention nicht maß­geblich. Vielmehr ist fun­da­mental, dass die unpro­fes­sio­nelle oder ungleiche Funktionsweise einer Institution im Ergebnis zur Benachteiligung von Menschen und Gruppen führt, die gesell­schaftlich auf­grund von stig­ma­ti­sie­renden Rassifizierungsprozessen und kul­tu­rellen Fremdzuschreibungen dis­kri­mi­niert sind.

Institutioneller Rassismus im Kontext des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen

Die ver­schie­denen, aber inein­an­der­grei­fenden Ebenen des insti­tu­tio­na­li­sierten Rassismus mit ihren unter­schied­lichen Akteur:innen lassen sich in diesem Fall wie folgt skizzieren.

1) Deutsche Einheit, ostdeutsche Sozialkrise und Asylabschaffungsdebatte

Im zeit­his­to­ri­schen Kontext spielte der deutsche Einheitstaumel und die ihm beglei­tende natio­na­lis­tische Welle eine tra­genden Rolle. Statt den ver­spro­chenen „blü­henden Landschaften“ (Bundeskanzler Kohl)22 wurde das nationale Projekt durch gesell­schaft­liche Verwerfungen kon­ter­ka­riert und gleich­zeitig poli­tisch zuge­spitzt.23 So stieg in der zuneh­menden Sozialkrise in der unmit­tel­baren Transformationsphase die Arbeitslosenquote im Westen von 6,2 % (1990) suk­zessiv auf 9,0 % (1994). In Ostdeutschland, wo 1990 mit 10,2 % bereits eine deutlich aus­ge­prägtere Problematik vorlag, wuchs dieser Wert im gleichen Zeitraum rasant auf 15,7 %.24 In Rostock lag diese Quote im Juni 1992 bei 15,0 %.25 Die regie­renden Parteien konnten keine wirk­liche Lösung für die sich aus­brei­tende Massenarbeitslosigkeit und Verarmung anbieten. Um die eigene Hilfslosigkeit zu ver­tu­schen, die zuneh­menden Proteste zu befrieden, Verantwortung von sich zu weisen und somit die eigene poli­tische Machtbasis zu sichern, boten rechte Parteien den Weißen Verlierer:innen der Einheit ras­sis­tisch dis­kri­mi­nierte Migrant:innen und Geflüchtete als Sündenböcke für die Misere an.

2) Politische Akteure und staatliche Verantwortungsträger:innen

Die Hyperbolisierung ras­sis­tisch kodierter Kampfbegriffe und Feindbilder („Überfremdung“, „Asylbetrug“, „Scheinasylant“, „mas­sen­hafter Asylmissbrauch“, „Sozialschmarotzer“ etc.) wurde in dieser Umbruchszeit im unge­ahnten Ausmaß inten­si­viert und aus­ge­dehnt. Ulrich Herbert, einer der füh­renden deut­schen Zeithistoriker resü­miert ernüch­ternd: „Daraus ent­wi­ckelte sich zwi­schen 1990 und 1993 eine der schärfsten, pole­mischsten und fol­gen­reichsten innen­po­li­ti­schen Auseinandersetzungen der deut­schen Nachkriegsgeschichte.“26 Gerade die Attacken auf das Grundrecht auf Asyl erwiesen sich als Innovationsquelle ras­sis­ti­scher Diskurse, die trotz der damit zum Ausdruck kom­menden Infragestellung der Menschenwürde gesell­schaftlich weit­gehend akzep­tiert waren. Diese Diskurs- und Politikverschiebung eröffnete neue Spielräume hin zum Extremismus der Mitte.27 Gleichzeitig befeuerte jede tole­rierte Grenzüberschreitung des poli­ti­schen Establishments rechts­extreme Kräfte und verlieh ihren Forderungen demo­kra­tische Legitimität. Die ver­schärfte Ausgrenzung gesell­schaftlich bereits mar­gi­na­li­sierter Minderheiten fun­gierte hier als ideo­lo­gische Verlustkompensation für Weiße Deutsche. Die damit ein­her­ge­hende Anrufung ras­sis­ti­scher Hierarchisierungen dient der gesell­schaft­lichen Stabilisierung, so dass deutsche Einheitsverlierer:innen mit Nationalstolz sym­bo­lisch auf­ge­wertet, einer exklu­siven völ­ki­schen Identität emo­tional ent­schädigt und poli­tisch mit dem natio­nalen Projekt ver­söhnt werden. Zu diesem Zweck wurden die seit Ende der 1970er Jahre geschürte Moralpanik gegen die gestiegene Zahl von Asylsuchenden ver­stärkt. Gerade in Wahlkampfzeiten wurden rechts­po­pu­lis­tische Angriffe auf das Asylgrundrecht massiv ver­schärft sowie ein rigi­deres Ausländerrecht gefordert.28 Nachdem der christ­de­mo­kra­tische Generalsekretär Volker Rühe im September 1991 eine bun­des­weite Kampagne aller CDU-Parteigliederungen zur Skandalisierung des „Asylmissbrauches“ gestartet hatte, warnte Bundeskanzler Kohl im Oktober 1992 auf dem CDU-Sonderparteitag dies­be­züglich vor dem dro­henden „Staatsnotstand“. Der Rechtsruck im poli­ti­schen Mainstream umfasste auch die sozi­al­de­mo­kra­tische Volkspartei29 und führte in der Folgezeit zu großen Wahlerfolgen für Parteien am rechten Rand, da unzu­friedene Wähler:innen zunehmend auf rechts­extreme Originale setzten.30 Der bun­des­po­li­tische Diskurs lud auch die soziale Atmosphäre in Rostock negativ auf31 und schuf gesell­schaft­liche und ideo­lo­gische Rahmenbedingungen, die das Pogrom möglich machten. Sogar während des lau­fenden Pogroms und auch danach nutzten Bundes‑, Landes- und Kommunalpolitiker:innen die ras­sis­tische Gewalt um das Asylgrundrecht aus­zu­hebeln und poli­tische Verantwortung von sich zuweisen.32 Diese Bemühungen wurden durch den am 6. Dezember 1992 ver­ein­barten „Asylkompromiss“ zwi­schen den Volksparteien belohnt, der dieses Grundrecht durch Verfassungsänderung fun­da­mental ein­schränkte. Faktisch lässt sich fest­stellen, dass das Pogrom poli­tisch instru­men­ta­li­siert wurde und ein lang gehegtes Großprojekt der Rechten zum Abbau zivi­li­sa­to­ri­scher Errungenschaften maß­geblich zum gesell­schaft­lichen Durchbruch verhalf.

3) Rassistische Medienbilder

Dieser Anti-Asyldiskurs wurde maß­geblich, aber nicht aus­schließlich von Medien des Axel Springer-Konzerns flan­kiert. Konservative Medien-Flaggschiffe wie Die Welt, FAZ und das Massenblatt BILD sprangen für diese Kampagne in die Bresche33 und betrieben poli­ti­sches Agenda Setting. Im Laufe der Zeit zogen andere Massen- und Leitmedien nach, so dass dieser jour­na­lis­ti­scher Trend sich in Kooperation mit ein­fluss­reichen wie inter­es­sierten poli­ti­schen Stichwortgeber:innen in der eigenen Echokammer eigen­dy­na­misch ver­stärkte.34 Das kann nicht wirklich ver­wundern, da die deut­schen Medien als Institution seit Jahrzehnten ein struk­tu­relles Rassismusproblem haben.35 Im Gegensatz zum Selbstbild als vierte Gewalt der Demokratie, die kri­tische Aufklärung und sach­liche Informierung betreibt, ist die Mehrheit der Berichterstattung über Zuwanderung, Flucht und „Ausländer“ in vielen Studien über­ein­stimmend als ste­reo­ty­pi­sierend, ras­si­fi­zierend und negativ fokus­siert ana­ly­siert worden, die bis heute mit gra­du­ellen Änderungen anhält.36 Laut Forschungsgruppe Wahlen domi­nierte das Thema „Asyl/Ausländer“ von Juni 1991 bis Juli 1993 mit Spitzenwerten von ca. 80 % als ver­meintlich wich­tigstes Problem die Bundespolitik – weit vor der deut­schen Einheit und der Arbeitslosigkeit. Die Leserschaft der BILD wollte zu 98 % (09/1991) das Asylrecht ein­schränken; andere Umfragen zu dieser Zeit ergaben eine Mehrheit von 55 % in der Bevölkerung.37 In diesem Zeitraum wurden nicht nur in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, sondern auch im Fernsehen, Radio und elek­tro­ni­schen Medien eine Flut von Berichten, Reportagen, Interviews, Gesprächen, Kommentaren, Bildern, Grafiken, Karikaturen und Filmen ver­schie­denster Art pro­du­ziert, die die Aufnahme von Asylsuchenden regel­mäßig ein­seitig pro­ble­ma­ti­sierten und Migrierte als Unzugehörige ras­si­fi­zierte.38

Rechtsextreme Bilder pro­pa­giert in einem Leitmedium

Ein ein­drück­liches Beispiel wie Leitmedien an rechts­extreme Bilder anknüpfen, lie­ferte DER SPIEGEL in der Coverstory „Flüchtlinge – Aussiedler – Asylanten: Ansturm der Armen (09/1991). Dabei greift die Redaktion nicht nur die Begrifflichkeiten und Bildersprache des Wahlplakats „Das Boot ist voll! Schluss mit Asylbetrug“ (06/1991) der rechts­extremen ‚Republikaner‘ auf.39 Vielmehr trans­por­tiert sie nahezu unge­schminkt die damit ver­bundene poli­tische Nachricht und macht sich diese Botschaft durch die feh­lende kri­tische Distanzierung zu eigen. Durch die Metapher der Masseninvasion findet sogar eine Radikalisierung statt, die Menschen wie eine Ameisenplage dar­stellt. Auch das rechts­extreme Motto „Das Boot ist voll!“ wurde als kol­lektive Notmetaphorik mit impli­ziter Täter-Opfer-Umkehrung zu einem geflü­gelten Wort. In der Kontroverse zur Einschränkung des Asylrechts wurde mit diesem Bild die bedrohte ‚nationale Schicksalsgemeinschaft‘ kon­struiert und gleich­zeitig beschworen. Die vor­wiegend negative jour­na­lis­tische Berichterstattung war nicht nur in diesem Fall durch selek­tives Gate Keeping (Einseitigkeit), Agenda Setting (Themenfixierung) und Framing (pro­ble­ma­tische Setzungen, Kontexte, Sprache und Perspektive) geprägt. Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung (DISS) hat die nega­ti­vie­rende, ent­in­di­vi­dua­li­sie­rende und ent­mensch­li­chende Verobjektivierung von Geflüchteten in der bild­ge­wal­tigen Sprache des Asyldiskurses akri­bisch seziert. Indem Asylsuchende in natu­ra­li­sie­renden Katastrophenszenarien als Fluten, Wellen, Ströme, Schwemmen und Massen erscheinen, werden sie anknüpfend an tra­dierte kolo­ni­al­ras­sis­tische Bilder als gefähr­liche Bedrohung kon­struiert. Da Asylbewerber:innen nicht als schüt­zens­werte „Flüchtlinge“,40 sondern in Analogie zum Spekulanten und Simulanten nun als „Asylanten“ oder gar als betrü­ge­rische „Scheinasylanten“ kri­mi­na­li­siert wurden, ver­dienen sie keine Sympathien oder Hilfe, sondern müssen vielmehr „abge­wehrt“, d.h. bekämpft werden. Indem mediale und poli­tische Routinen, Schlagwörter wie „Asylmissbrauch“, „Sozialbetrug“, „Ausländerkriminalität“ durch omni­prä­sente Wiederholung prägten, wurden nicht nur ras­sis­tische, sondern auch anti-ziganistische Klischees reak­ti­viert und ver­stärkt. Auf diese Weise wurden ‚harte Maßnahmen‘ des deut­schen Staates als über­le­bens­not­wendige Abwehr ratio­na­li­siert und legi­ti­miert. Diese Konstruktionen beflü­gelten Überfremdungsängste und unter­mau­erten Polemiken gegen Einwanderung und „Multikulti“.41

Die lokale Wahrnehmung und ras­sis­ti­schen Auseinandersetzung um die Zentrale Aufnahmestelle (ZAST) in Lichtenhagen wurden im Vorfeld durch über­re­gionale Kontroversen über­lagert und geframt:42 „In der Tat war die Zeit vor den Ausschreitungen von einer ten­den­ziösen und bis­weilen ras­sis­ti­schen Berichterstattung in den lokalen und über­re­gio­nalen Medien begleitet.“43 Auch nach dem Rostocker Pogrom waren die medialen Reaktionen dop­pel­deutig und mehr­heitlich weit von einer kri­ti­schen Selbstreflexion ent­fernt: Neben Abscheu waren vor allem halb­herzige Distanzierungen, mora­lische Relativierungen und Schuldumkehrthesen in vielen Medien wahr­nehmbar, die nun noch ent­schlos­sener im Gleichklang mit kon­ser­va­tiven und rechts­extremen Stimmen das „Einfallstor Asyl“ als Gefahrenquelle und Ursache aus­machten.44

Normalisierung ras­sis­ti­scher Gewalt als blei­bende Hypothek der 1990er Jahre

Politik und Medien müssen sich als Institutionen mit der Frage aus­ein­an­der­setzen, inwieweit ihre Kampagnen die ras­sis­ti­schen Gewaltexzesse in den 1990er Jahre begünstigt und mit­ver­ur­sacht haben. Laut der Polizeistatistik „Politisch Motivierte Kriminalität (PMK) – rechts“ wurden 1990 noch 128 rechte Gewalttaten erfasst. Diese Zahl hatte sich 1991 mit 1.483 mehr als ver­zehn­facht und erreichte 1992 mit 2.584 ihren bis­he­rigen Höchststand. Eine ähnlich dra­ma­tische Entwicklung war auch bei rechten Straftaten zwi­schen 1990 mit 1.380 und 1993 mit 10.561 Fällen aus­zu­machen. Im Unterschied zur poli­zeilich erfassten rechten Gewalt stiegen die rechten Straftaten bis 2016 ten­den­ziell immer weiter an, da sie zum großen Teil Propagandadelikte umfassen. Obwohl die Kriterien der Statistik 2001 teil­weise ver­ändert wurden und Vergleiche Einschränkungen unter­liegen, lässt sich zumindest in der Unterkategorie „rechte Gewalttaten“ sagen, dass diese bis 1995 auf etwa 800 Fälle jährlich absanken und sich auf diesem hohen Niveau bis zum nächsten rechten Gewaltexzess 201516 mit kleinen Schwankungen ein­pen­delten. Zwischen 60 bis 80 % der seit 2001 erfassten rechten Hasskriminalität wird von der Polizei als „frem­den­feindlich“ bzw. „ras­sis­tisch“ ein­ge­stuft.45

Der SPIEGEL berichtet in seiner Titelstory zu den „Krawallen“ in Rostock-Lichtenhagen: „Nach einer Untersuchung des Berliner Instituts für Sozialwissenschaftliche Studien wollen 85 Prozent der Ostdeutschen keine Türken mehr ins Land lassen. 82 Prozent hegen Aversionen gegen Afrikaner oder Asiaten, rund 60 Prozent lehnen Osteuropäer ab.“46

Auch hier zeigt sich wieder, dass die unter­schied­lichen Formen des Rassismus mit­ein­ander sind und ver­schiedene Communities trotz aller Unterschiede auch gemeinsame Erfahrungen mit­ein­ander teilen. In Bezug auf Rostock-Lichtenhagen ist wichtig daran zu erinnern, dass sowohl anti-vietnamesische als auch anti-ziganistische Gewalt nicht nur in den 1990er Jahren im ost­deut­schen Alltag etwa in Form von ras­sis­ti­schen Beleidigungen und Überfällen sehr präsent war.47 Unter anderem wurden am 15. März 1992 der 18-jährige Dragomir Christinel aus Rumänen in einem Asylwohnheim in Saal (MV) und am 24. April 1992 Nguyễn Văn Tú in Berlin-Marzahn von Rechtsextremisten ermordet.

4) Kommunale Politik, Verwaltung und Sicherheitsbehörden

Die 1990 eröffnete ZAST in Rostock-Lichtenhagen ver­fügte über eine maximale Aufnahmekapazität für 300 Personen. Schon lange vor dem Pogrom war die dra­ma­tische Überbelegung als dau­er­haftes Problem den zustän­digen Verwaltungen bekannt. Bereits im Sommer 1991 kri­ti­sierte ein Vertreter des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) die Lebensbedingungen in der ZAST als unhaltbar. Auch nach drin­genden Warnungen des Gesundheitsamtes im Juni 1992 blieben kom­munale Politik und Verwaltung weit­gehend untätig, um auf kom­mu­naler Ebene ein Asylstopp durch Überlastung zu erzwingen.48 Dabei war den poli­tisch Verantwortlichen vor Ort schon früh­zeitig klar, welche Folgen die weitere Eskalation der unver­tret­baren Zustände in der ZAST haben könnte. Rostocks Oberbürgermeister Kilimann (SPD) schrieb am 26.07.1991 an den MV-Innenminister Diederich (CDU): „Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr aus­zu­schließen“.49 Rostocks Innensenator Peter Magdanz (SPD) warnte im Juli 1992 davor, „dass es kracht“.50 Trotz kon­kreter Hinweise auf rechts­extreme Drohungen gegen die ZAST und Informationen über gewalt­be­reite Mobilisierungen der NPD-nahen Initiative „Rostock bleibt deutsch“ und der DVU gesteu­erten „Bürgerinitiative Lichtenhagen“, die in den Tagen vor dem Pogrom von Lokalmedien auf­ge­griffen wurden, ent­wi­ckelten die Behörden weder auf Kommunal- noch auf Landesebene Sicherheitskonzepte oder trafen Vorbereitungen. Fast alle poli­zei­lichen Führungskräfte waren am Pogromwochenende im Heimaturlaub im Westen. Diese Sorglosigkeit teilten sie mit Rostocks Oberbürgermeister Kilimann, der seinen Urlaub nur kurz unter­brach, um ihn dann noch während des lau­fenden Pogroms fort­zu­setzen. Das Versagen von Politik und Sicherheitsorganen ist offen­sichtlich und eklatant:51 Die ZAST und das Sonnenblumenhaus waren zu keinem Zeitpunkt während des Pogroms aus­rei­chend geschützt. Besonders scho­ckierend war der Abzug der letzten Polizeikräfte am Abend des 24.08.1992, so dass das Sonnenblumenhaus mit mehr als 100 viet­na­me­sische Bewohner:innen, einem ZDF-Fernsehteam, dem Rostocker Ausländerbeauftragen Wolfgang Richter sowie linken Aktivist:innen etwa 1,5 Std. unge­hindert gebrand­schatzt werden konnte. Nur mit knapper Not konnten die Eingeschlossenen über eine mühevoll ent­sperrte Brandschutztür der töd­lichen Rauchvergiftung ent­kommen. Bis heute ist unge­klärt, ob behörd­liche Überforderung, Unfähigkeit und Inkompetenz bzw. eine fahr­lässige, poli­tisch tole­rierte oder gar gewollte Zuspitzung der Konflikte um Aufnahmestopp für die ZAST (kom­munal) und Asylrechtsänderung (bun­des­po­li­tisch) für das mul­tiple behörd­liche Nicht-Handeln mit­ver­ant­wortlich sind. Denkbar ist auch eine Mischung dieser Faktoren. Auffällig ist, dass die Polizei trotz Personalmangel am 23.08.1992 Zeit, Kapazitäten und Priorität (er-)fand, etwa 60 linke Demonstrierende fest­zu­nehmen, die ihre Solidarität mit den ange­grif­fenen Roma und Vietnames:innen zeigten.52 Auch die groß­räumige Behinderung und Unterdrückung der Solidaritätsdemonstration „Stoppt die Pogrome“ am 29.08.1992 mit kurz­fristig mobi­li­sierten 3.000 Polizist:innen zeigt ein­drucksvoll, was bei einem ent­spre­chenden poli­ti­schen Willen alles möglich ist.53 Daher muss die für einen demo­kra­ti­schen Rechtsstaat unge­heu­er­liche These endlich scho­nungslos unter­sucht werden: „Rostock-Lichtenhagen sollte als Fanal fun­gieren. Geplant war eine kon­trol­lierte Eskalation des Volkszorns mit dem Ziel, die SPD zum Einlenken in der Asylfrage zu zwingen“.54

Roma-Familien retten sich aus der ZAST.
Eingeschlossene Vietnames:innen befreien sich.

5) Unzureichende Aufarbeitungen: politisch, juristisch, wissenschaftlich, kulturell und erinnerungspolitisch

Nicht nur die Vorgeschichte und der kon­krete Tatablauf des Pogroms, sondern auch die Aufarbeitung weist ein­zig­artige insti­tu­tio­nelle Versäumnisse auf. Auf poli­ti­scher Ebene sind die Ergebnisse der Untersuchungsausschüsse des Schweriner Landtag und der Stadt Rostock unge­wöhnlich dürftig, da es offen­sichtlich an Aufklärungsinteresse man­gelte und die par­la­men­ta­rische Arbeit im Parteienstreit endete:55 „Bis heute gibt es keinen der dafür die Verantwortung über­nommen hätte. Kein Politiker, egal mit wem ich sprach, alle, wirklich alle, duckten sich in dem Moment weg56 […] Beide Untersuchungsausschüsse sind zu dem Ergebnis gekommen, dass man das [gemeint ist die poli­tische Verantwortung] so nicht mehr nach­voll­ziehen kann.“57 Innenminister Lothar Kupfer bestritt jede Verantwortung und wurde erst Februar 1993 ent­lassen. Rostocks Oberbürgermeister Kilimann trat Dezember 1993 ohne Schuldeingeständnis und unter Protest zurück. Auch unter den poli­zei­lichen Führungskräften übernahm niemand die Verantwortung. Stattdessen herrschten undurch­sichtige Schuldzuweisungen und wech­sel­sei­tiger Kompetenzstreit: Die ver­schie­denen Polizeibehörden auf Landes- und Kommunalebenen schoben sich gegen­seitig die Verantwortung für das öffent­liche Debakel zu und warfen ein­ander Inkompetenz und sogar absicht­liches Fehlverhalten vor,58 was die These eines tole­rierten Pogroms nährte.

„Die Rollen von Polizeichef Siegfried Kordus, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen nach Hause fuhr und am Montag Verstärkung durch BGS-Einheiten ablehnte, von Landespolizeichef Hans-Heinrich Hansen, der keine Verstärkung nach Rostock schickte, oder Bundesinnenminister Rudolf Seiters, der in Rostock ver­trau­liche Gespräche mit dem Ministerpräsidenten Seite, Innenminister Kupfer und Kordus führte, sind jedoch nicht hin­rei­chend auf­ge­hellt worden.“59

Noch nicht merk­würdig genug: Der besonders gescholtene Rostocker Polizeidirektor Kordus wurde bereits eine Woche nach dem Pogrom zum Direktor des Landeskriminalamts befördert. Es wirkte wie eine Belohnung für treue Dienste und untergrub die Ernsthaftigkeit der lau­fenden Untersuchungen zum poli­zei­lichen Versagen. Kordus wurde zwei Jahre später trotz glaub­hafter Korruptionsvorwürfe und Berichte über mafiöse Beziehungen nicht ange­klagt, sondern nur in den vor­zei­tigen Ruhestand geschickt – dies ist umso erstaun­licher, da in den letzten 14 Monaten vor Kordus Aufdeckung vier Ermordungen im umkämpften Rostocker Rotlichtmillieu statt­fanden.60 Auch zwei andere Spitzenbeamte, die 1992 beim Pogrom in füh­renden Polizeipositionen waren, wurden durch einen Whistleblower in anderen Fällen des Amtsmissbrauchs beschuldigt.61 Auch der über­for­derte und von seinen Vorgesetzten im Stich gelassene Polizeieinsatzleiter Deckert wurde trotz mas­siver Fehler62 aus­ge­rechnet als Dozent an die Polizeifachhochschule Güstrow ver­setzt. Die Ermittlungsverfahren gegen Kordus und Deckert wurden 1994 und 2000 ohne Konsequenzen ein­ge­stellt, wobei Deckert einigen als „Bauernopfer“ galt.

Auch die anderen juris­ti­schen Aufarbeitungsversuche waren von Desinteresse, unpro­fes­sio­neller Arbeitsweise und Erfolgslosigkeit geprägt. Während des Pogroms wurden nur 370 vor­läufige Festnahmen vor­ge­nommen sowie 408 Ermittlungsverfahren ein­ge­leitet – nicht zuletzt gegen linke Gegendemonstrierende. In den meisten Fällen war eine straf­recht­liche Verfolgung kaum möglich, da nur wenige qua­li­fi­zierte, d.h. beweis­si­chernde Festnahmen erfolgten.63 Im Ergebnis wurde ein Großteil der 215 gerichtlich ein­ge­lei­teten Verfahren gegen 257 Personen ein­ge­stellt. Am Ende wurden nur 44 Urteile aus­ge­sprochen, dar­unter auch Urteile gegen Linke auf Solidaritätsdemonstrationen: Nur ein Fall bezog sich auf den direkten Angriff auf das Sonnenblumenhaus. Zumeist wurden relativ gering­fügige Geld- und Bewährungsstrafen wegen Landfriedensbruchs und Propagandadelikten aus­ge­sprochen. Von elf ursprünglich ver­hängten Arreststrafen zwi­schen sieben Monaten und drei Jahren wurden sieben zur Bewährung aus­ge­setzt. Nur vier Straftäter mussten zwi­schen zwei und drei Jahren tat­sächlich in den Jugendarrest. Insgesamt wird die juris­tische Aufarbeitung als skan­dalös bewertet: Die zum Teil sehr lang­samen Verfahren mün­deten bes­ten­falls in formale Blitzprozesse ohne sach­liche Aufarbeitung mit sehr milden Urteilen, da Richter:innen und Staatsanwälte wenig Engagement und Interesse zeigten. Ein Richter wurde auf­grund der gro­tesken Amtsführung, die auch zur Verjährung einer Anklage führte, wegen Rechtsbeugung und Strafvereitelung im Amt ange­zeigt. Selbst in Fällen, wo aus­rei­chend Beweise vor­lagen, wurden nur Bewährungsstrafen für vor­be­strafte rechts­extreme Gewalttäter ver­hängt – trotz Verurteilung wegen ver­suchten Mordes. Das letzte nach elf Jahren abge­schlossene Verfahren gilt auf­grund der absurd langen Prozessverschleppung als eines der „größten Justizskandale der Nachkriegszeit“.64

Die große Diskrepanz zwi­schen der objektiv erkenn­baren gesell­schafts­po­li­ti­schen Bedeutung des Pogroms und der nach­läs­sigen insti­tu­tio­nellen Aufarbeitung trifft auch im wis­sen­schaft­lichen Bereich zu. Bis heute ist kein großes Forschungsinteresse am Pogrom von Lichtenhagen fest­stellbar. Das spiegelt sich auch im bis­he­rigen Bestand der Literatur zum Thema wider: Bisher sind weniger als eine Handvoll Monographien und Anthologien erschienen, die sich zentral mit den Angriffen von Rostock-Lichtenhagen aus­ein­an­der­setzen. Der kon­junk­tu­rellen Aufmerksamkeitsökonomie folgend sind bisher alle zehn Jahre Jubiläumsbänder zum Thema erschienen. Den Anfang machte das DISS mit seinem dis­kurs­ana­ly­ti­schen Ansatz in „SchlagZeilen. Rostock: Rassismus in den Medien“ (1992), der die Ereignisse medi­en­wis­sen­schaftlich zeitnah ein­ordnete. Dann folgte 2002 die jour­na­lis­tische Aufarbeitung von Jochen Schmidt, der als ZDF-Praktikant und Zeitzeuge im Sonnenblumenhaus das Pogrom hautnah erlebte. Obwohl das Buch von den bis­he­rigen Publikationen zum Thema die größte öffent­liche Aufmerksamkeit erfuhr, löste die titel­ge­bende These von der „Politische[n] Brandstiftung“65 trotz der guten jour­na­lis­ti­schen Vernetzung des Autors weder einen medialen Wirbelsturm noch ein poli­ti­sches Erdbeben aus. Die These wurde in der Berichterstattung rela­ti­viert und der the­ma­tische Fokus ver­schoben. Dieses Desinteresse deutet Schmidt als „Totschweigen“66. Die Angst vor Kontroll- und Glaubwürdigkeitsverlust macht diese Frage anscheinend auch noch nach Jahrzehnten höchst explosiv. Zum 20. Jahrestag erschien dann ein kleiner, nur aus drei lesens­werten Beiträgen bestehender Sammelband, den Thomas Prenzel als wis­sen­schaft­licher Mitarbeiter am Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften an der Universität Rostock her­ausgab und wesentlich miter­ar­beitete. Dieser Rhythmus wird 2023 mit dem von Gudrun Heinrich, David Jünger, Oliver Plessow und Cornelia Sylla edi­tierten Sammelband „Perspektiven aus der Wissenschaft auf 30 Jahre Lichtenhagen 1992“ leicht ver­spätet fort­ge­setzt. Das Buch doku­men­tiert und fasst die Ergebnisse der Vorlesungsreihe an der Universität Rostock zum 30. Jahrestag des Pogroms zusammen. Wie 2012 kam dieses Projekt aber nicht durch ein insti­tu­tionell geplantes Programm der Universität, sondern durch Eigeninitiativen von Universitätsangehörigen zustande, die alle in unter­schied­lichen Fachbereichen arbeiten und sich Frühjahr 2022 zufällig bei einem Workshop trafen.

Zweifellos ist die Anzahl von wis­sen­schaft­lichen Aufsätzen und Bezugnahmen höher, ebenso die zahl­reichen jour­na­lis­ti­schen Erzeugnisse, die zu den Jahrestagen regel­mäßig einen Boom erfahren. All das kann aber nicht über die wis­sen­schaft­liche Marginalisierung und das letztlich unzu­rei­chende Interesse an einer kon­ti­nu­ier­lichen Aufarbeitung und ver­tieften Erforschung hin­weg­täu­schen. Die Ursachen dafür sind unklar: Wenn wir die Aufarbeitung des NSU-Komplexes zum Vergleich her­an­ziehen,67 kann die These auf­ge­stellt werden, dass die staats­po­li­tische Brisanz des Falls der wis­sen­schaft­lichen und jour­na­lis­ti­schen Aufarbeitung hier nicht im Wege steht – eher kann das Gegenteil behauptet werden. In den letzten Jahren ist ein ver­stärktes Interesse zu ver­zeichnen: Darunter zählt etwa das Forschungsprojekt „Doing Memory“ von Tanja Thomas, Fabian Virchow und Matthias Lorenz sowie Rostocker Initiativen mit Lokalforschenden wie etwa Gudrun Heinrich und das Dokumentationszentrum „Lichtenhagen im Gedächtnis“. Vereinzelt exis­tieren auch Bachelor- und Masterarbeiten von inter­es­sierten Studierenden sowie einige Dissertationsprojekte.

Auf der Ebene der kul­tu­rellen Verarbeitung fällt eben­falls im Vergleich zur Themensetzung des NSU-Komplexes etwa im Bereich „Theater“ ein deut­licher Unterschied auf,68 obwohl beide Themen mit­ein­ander ver­bunden sind und trotz wich­tiger Unterschiede in ihrer gesell­schaft­lichen und zeit­his­to­ri­schen Bedeutung ver­gleichbar erscheinen. Zum Thema Rostock-Lichtenhagen sind bisher lediglich drei Stücke in kleinen Theaterproduktionen ent­standen: Davon nimmt nur das Stück „Sonnenblumenhaus“ (2014) von Dan Thy Nguyen und Iraklis Panagiotopoulos die Perspektive der ange­grif­fenen viet­na­me­si­schen Community ein.69 Die beiden Stücke „Kein schöner Land“ (2000) der freien Gruppe „Neue Tendenz Theater“ aus NRW und „Bis zum Anschlag“ (2011) von Christof Lange vom Freien Theater Jugend Rostock fokus­sieren sich dagegen auf Weiße Täter.70 Diese Perspektive nimmt auch der bisher einzige Spielfilm zum Thema ein. In Burhan Qurbanis Kinostreifen „Wir sind jung. Wir sind stark“ (2015) stehen erneut eine Weiße Jugendgruppe und die Tätersicht im Zentrum.71 Im Unterschied dazu sind die Dokumentarfilme weniger bekannt, aber the­ma­tisch diverser auf­ge­stellt, da im Laufe der Zeit neue Fragen etwa zur Integrations- und Erinnerungsarbeit dazu kamen. Neben der „Kennzeichen D“-Reportage des ZDF-Teams ist ins­be­sondere der bri­tische Dokumentarfilm „The Truth Lies in Rostock“ (1993) von Mark Saunders und Siobhan Cleary, die bei ihrer Arbeit von der linken Rostocker Initiative JAKO videocoop unter­stützt wurden, als zeit­his­to­ri­sches Dokument und als Archivmaterial von beson­derer Bedeutung. In Interviews mit Roma-Geflüchteten und viet­na­me­si­schen Arbeiter:innen ent­standen Bilder und Narrative, die den Angegriffenen bis heute eine Stimme geben und ihre Sicht der Geschichte ansatz­weise reprä­sen­tieren. Anlässlich des 30. Jahrestags ent­stand in der Reihe „Die Narbe“ die bisher letzte Fernsehproduktion „Der Anschlag in Rostock-Lichtenhagen“ (NDR 2022). Trotz des Postulats Rassismus zu benennen und Betroffenenperspektiven Raum ein­zu­räumen, gelingt das nicht wirklich. So wurde Mai-Phuong Kollaths Plädoyer die ras­sis­tische Gewalt im August 1992 als „Pogrom“ zu bezeichnen aus der doku­men­tierten Diskussion raus­ge­schnitten und statt­dessen am Begriff „Krawalle“ fest­ge­halten.72

Auch die Stadt Rostock tut sich schwer, diesen Themen und Herausforderungen gerecht zu werden. Zwar wurde von zivil­ge­sell­schaft­licher Seite etwa die Ausstellung „Von Menschen, Ansichten und Gesetzen. Rostock-Lichtenhagen – 10 Jahre danach“ (Bund statt Braun, 2002) erar­beitet. Im Laufe der Jahre fanden auch unzählige Veranstaltungen und unter­schied­lichste Projekte statt. Trotzdem kann gesagt werden, dass bis 2017 die offi­zielle wie zivil­ge­sell­schaft­liche Erinnerungspolitik lediglich ereig­nis­be­zogen, kurz­fristig und tem­porär, z.T. auch ver­klärend und instru­mentell war. Statt die insti­tu­tio­nelle Verantwortung staat­licher Akteure und den all­ge­gen­wär­tigen Rassismus im Alltag bis hin zum behörd­lichen Handeln auf­zu­ar­beiten und in der Bildungsarbeit wei­ter­zu­ver­mitteln, wurde nicht selten der Fokus auf mul­ti­kul­tu­relle Feste, Versöhnung und Integration gelegt73, um unan­ge­nehme und kon­flikt­trächtige Themen zu ver­meiden. Diese Kritik lässt sich auch an einem städ­ti­schen Vorzeigeprojekt zur erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Aufarbeitung des Pogroms verdeutlichen.

Mahnmale der Künstlergruppe „Schaum“ im Rostocker Stadtraum (Foto: privat)

In Reaktion auf fort­lau­fende Kritik und Forderungen nach Schaffung von Lern- und Erinnerungsorten in öffent­lichen Raum74 lud die Stadt Juli 2016 zehn Künstler:innen und Projekte zu einem Wettbewerb mit einem Gesamtetat von lediglich 105.000 Euro ein.75

Die Entscheidung der Rostocker Jury fiel zugunsten der lokalen Künstlergruppe SCHAUM aus, deren Entwurf als Nachrücker ein­ge­bracht wurde. Ihr dezen­trales Konzept „Gestern Heute Morgen“ geht von dem zen­tralen Arbeitsmotto aus: „Die Kunstwerke wollen keine Antworten oder Schuldzuweisungen geben.“76

Was aber bedeutet das? Aus meiner Sicht stellt dieses Denkmal eine ver­passte Chance dar. Denn die dezen­trale Aufstellung u.a. vor dem Rathaus, dem Redaktionsgebäude der Ostsee-Zeitung und dem Polizeipräsidium ist eigentlich her­vor­ragend geeignet, die Rolle und Verantwortung dieser Institutionen beim Pogrom ganz konkret mit künst­le­ri­schen Mitteln und bil­dungs­po­li­ti­scher Aufarbeitung offen zum Thema zu machen. Stattdessen wurden zum 25. Jahrestag Installationen auf­ge­stellt, die nicht nur sehr unauf­fällig und leicht zu über­sehen sind; ihre abs­trakten Symbole und uni­ver­selle Gesten lenken auch davon ab, sich tat­sächlich mit dem ras­sis­ti­schen Pogrom im lokalen Kontext aus­ein­an­der­zu­setzen. Da diese Skulpturen so unver­ständlich sind, ent­steht immer wieder die absurde Situation, dass Besucher:innen diese Gebilde nicht als Erinnerungsorte erkennen und weiter danach suchen, obwohl sie direkt davor stehen.77 Aufgrund ihrer mini­ma­lis­ti­schen und kos­ten­güns­tigen Gestaltung, die mit einer Grundfläche von meist nur 0,18 qm auch kaum Raum bean­sprucht, wirken dieser Mahnmale wie eine formale Pflichtaufgabe, die im Alltag mög­lichst wenig stören soll und zumindest der Dominanzgesellschaft keine schmerz­haften Erinnerungen oder Lernprozesse zumuten will. In diese Logik passt auch die Benennung der Installation vor dem Sonnenblumenhaus als „Selbstjustiz“, die mit diesem Titel das frag­würdige Risiko der Legitimierung ras­sis­ti­scher Gewalt eingeht.

Auch bei diesem erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Projekt offen­barte sich erneut ein alt­be­kanntes Strukturproblem: Das Übergehen und die Unsichtbarmachung von Betroffenenperspektiven. Erst im Nachhinein wurde der Stadt bewusst, dass ver­gessen wurde, die Opfer des Pogroms ein­zu­be­ziehen. Daher wurde die sechste Skulptur „Empathie“ von einer NGO finan­ziert und 2018 den betrof­fenen Opfern nach­träglich gewidmet. Obwohl mit Romani Rose sowie dem Vorsitzenden des Migrantenrat Rostock Selbstrepräsentation ermög­licht wurde, standen bei beiden Einweihungen bedau­er­li­cher­weise keine Sprecher:innen der viet­na­me­si­schen Community auf dem Programm. Auch die moder­ni­sierte Erinnerungspolitik ist mit Marginalisierung und Unsichtbarmachung ver­strickt. So lange Arbeits- und Entscheidungsprozesse ohne gleich­be­rech­tigte Mitwirkung aller betrof­fenen Communities statt­finden und ent­spre­chende (auch mate­rielle) Voraussetzungen dafür geschaffen werden, werden zwangs­läufig insti­tu­tio­na­li­sierte Ausschlüsse reproduziert. 

Abschlussrede „Entschädigung und Rückkehrrecht für die Betroffenen des Pogroms“ von Kien Nghi Ha | Bundesweite Demo„Damals wie heute: Erinnern heißt ver­ändern“ in Rostock-Lichtenhagen, 27.08.2022

So verhält es sich auch mit der offi­zi­ellen Entschuldigung der Stadt durch Oberbürgermeister Pöker, die schon 2002 aus­ge­sprochen wurde. Aber so lange keine Entschädigungsleistungen und ein Rückkehrrecht für die damals abge­scho­benen Opfer des Pogroms ange­boten werden, beschränkt sich die „Wiedergutmachung“ auf ein sym­bol­po­li­ti­sches Zeichen.

Zusammenfassend lässt sich fest­stellen, dass anti-Asiatischer Rassismus nicht nur in Rostock, sondern all­gemein in Deutschland bisher his­to­risch ver­kannt, ver­drängt und in allen Bereichen stark unsichtbar gemacht wurde. Ob diese gra­vie­renden Defizite in den nächsten Jahren ein Stück weit abgebaut werden können, ist mit Skepsis zu betrachten, solange der poli­tische Wille in den Institutionen und bei ent­schei­denden Gatekeepern fehlt. Obwohl Deutschland nicht nur post­mi­gran­ti­scher, sondern auf­grund zuneh­mender Migrationsprozesse aus dieser Weltregion auch Asiatisch-diasporischer wird, ist die struk­tu­relle Sensibilität für diese Thematik in der deut­schen Gesellschaft nach wie vor nur gering aus­ge­prägt. Das zeigen nicht zuletzt die Koalitionsvereinbarungen der aktu­ellen Bundesregierung vom Dezember 2021: Trotz Aktualität und Vielzahl der doku­men­tierten Corona-Rassismusfälle gegen Asiatisch Aussehende in Deutschland wird das Thema „anti-Asiatischer Rassismus“ im Unterschied zu anderen Rassismusformen dort nicht einmal erwähnt. Folglich werden die Institutionen des Bundes keine spe­zi­fi­schen Maßnahmenpakete gegen anti-Asiatischen Rassismus kon­zi­pieren oder das Thema sys­te­ma­tisch berück­sich­tigen, da dieses Problem dort nicht explizit aner­kannt ist. Das ist insoweit kon­se­quent, da auch im bis­he­rigen „Nationalen Aktionsplan gegen Rassismus“ (Bundesministerium des Innern 2017) anti-Asiatischer Rassismus kein Thema ist. Asiatische Deutsche, Asiatisch-diasporische und Asiatische Menschen sind in Deutschland im Unterschied zu anderen Betroffenengruppen immer noch nicht aus­drücklich als vul­nerable und schutz­würdige Gruppe aner­kannt. Das bedeutet, dass aus dem Pogrom von Rostock-Lichtenhagen auch heute noch nicht die rich­tigen Lehren gezogen wurden.

Kien Nghi Ha ist pro­mo­vierter Kultur- und Politikwissenschaftler und leitet den Arbeitsbereich Asian German Studies am Asien-Orient-Institut der Universität Tübingen.. Er hat an der New York University sowie an den Universitäten in Bremen, Heidelberg und Bayreuth geforscht und wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien aus­ge­zeichnet. Neben zahl­reichen Publikationen zu post­ko­lo­nialer Kritik, Rassismus, Migration und Asian Diaspora Studies ist zuletzt der Sammelband Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond (Assoziation A, 2021) als erwei­terte Neuauflage erschienen. Aktuell edi­tiert er die Anthologie Asiatische Präsenzen in der Kolonialmetropole Berlin (Assoziation A, 2023) und schreibt am Essay Boat People – Vom schutz­wür­digen Flüchtling zur Zielscheibe des Anti-Asiatischen Rassismus für den Ausstellungskatalog „Alfredo Jaar – The Kindness of Strangers“ (2024) des Museums der Moderne Salzburg und den Kunstsammlungen Chemnitz.
Im Erscheinen: Verwobene Geschichten in Hito Steyerls „Die leere Mitte“ (1998) aus Asiatisch-deutscher Perspektive. In: Ömer Alkin/Alena Strohmaier (Hg.): Rassismus und Film. Marburg: Schüren Verlag, 2023. Zur kolo­nialen Matrix des anti-Asiatischen Rassismus: Gelbe Gefahr, Unsichtbarkeit und Exotisierung. In: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (Hg.): Rassismusforschung: Rassismen, Communities und anti­ras­sis­tische Bewegungen, Bd. 2, Bielefeld: tran­script 2023.

Fußnoten

1Um die geo­gra­phische Bezeichnung „asia­tisch“ von kul­tu­rellen Fremd- wie Selbstkonstruktionen zu unter­scheiden, schlage ich – im Unterschied zur medialen Verwendung und in Anlehnung an die inzwi­schen im anglo­phonen Raum insti­tu­tionell eta­blierte Schreibweise von Asian, Black, Brown und auch White – die Großschreibung von „Asiatisch“ vor, um eine Differenzierung zu ermöglichen.

2Vgl. Kien Nghi Ha: Unrein und ver­mischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolo­nialen „Rassenbastarde“. Bielefeld: tran­script 2010, S. 259–277.

3Vgl. zum anti­ko­lo­nialen Aufstand des „Verbands für Gerechtigkeit und Harmonie“ (義和團) Mechthild Leutner / Klaus Mühlhahn (Hrsg.): Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900–1901. Berlin: Links 2007.

4Dieser Effekt ließ sich in der Corona-Pandemie sowohl in den USA als auch in der BRD gut erkennen als ursprünglich anti-chinesische Ressentiments auch auf andere dia­spo­rische Gruppen mit Ost- und Südostasienbezügen aus­ge­dehnt wurden. Die Betroffenen wurden ange­griffen und vielfach grenz­über­schreitend in Kollektivhaftung genommen, so dass Asiatisch-Sein in diesen Fällen zwangs­weise durch anti-Asiatischen Rassismus fremd defi­niert wurde. Vgl. Kien Nghi Ha: Zur trans­na­tio­nalen Kolonialität des anti-Asiatischen Rassismus: Yellow Peril und anti-chinesische Migrationspolitik im pazi­fi­schen Raum. In: Mechthild Leutner / Pan Lu / Kimiko Suda (Hrsg.): Antichinesischer und anti-asiatischer Rassismus. Historische und gegen­wärtige Diskurse, Erscheinungsformen und Gegenpositionen. Münster: LIT-Verlag 2022, S. 38–58, hier S. 54–56.

5Vgl. etwa die Karikaturen des deutsch-amerikanischen Zeichners Lyonel Feininger, der zur Jahrhundertwende die deutsche Kolonialpolitik in Afrika und China mit ras­sis­ti­schen Bildern kom­men­tierte. Siehe Mechthild Leutner: Rassismus und deut­scher Kolonialismus in China. Legitimation Weißer Herrschaft und das Feindbild von der „Gelben Gefahr“. In: Dies. / Pan Lu / Kimiko Suda (Hrsg.): Antichinesischer und anti-asiatischer Rassismus. Historische und gegen­wärtige Diskurse, Erscheinungsformen und Gegenpositionen. Münster: LIT-Verlag 2022, S. 11–37, hier S. 28–33.

6Vgl. Kien Nghi Ha: Zur kolo­nialen Matrix des anti-Asiatischen Rassismus. Gelbe Gefahr, Unsichtbarkeit und Exotisierung. In: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (Hrsg.): Rassismusforschung: Rassismen, Communities und anti­ras­sis­tische Bewegungen, Bd. 2, Bielefeld: tran­script 2023, im Erscheinen.

7Vgl. Walter Demel: How the ‚Mongoloid Race‘ Came into Being: Late Eighteenth-Century Constructions of East Asians in Europe, In: Rotem Kowner / Ders. (Hrsg.): Race and Racism in Modern East Asia Western and Eastern Constructions, Leiden: Brill 2013, S. 59–85; Rotem Kowner: Between Contempt and Fear: Western Racial Constructions of East Asians since 1800. In: Ebd., S. 87–125.

8Ich habe den Begriff der „Entinnerung“ in Abgrenzung zum pas­siven und unbe­wussten Vergessen als einen aktiven kultur- und erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Prozess defi­niert, der die zu dieser Zeit gesell­schaftlich domi­nanten Werte und Interessen arti­ku­liert. Vgl. Kien Nghi Ha: Macht(t)raum(a) Berlin – Deutschland als Kolonialgesellschaft. In: Maisha Eggers/Grada Kilomba/Peggy Piesche/Susan Arndt (Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster: Unrast 2005, S. 105–117, hier S. 105.

9Der freie Lokaljournalist Frank Keil ent­deckte bei seinen Recherchen zu Süleyman Taşköprü, dem Hamburger Mordopfer des NSU, zufällig diese ihm unbe­kannte Geschichte wieder. Vgl. Frank Keil: Der blanke Hass. In: Die Zeit, 23.02.2012.

10Vgl. Kien Nghi Ha: Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân († Hamburg 1980): Keine Zweiklassengesellschaft in der Kultur- und Erinnerungspolitik!. In: Ders. (Hrsg.): Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond. Berlin / Hamburg: Assoziation A 2021, S. 140–149, hier S. 143–144 und Kien Nghi Ha: Die Ankunft der viet­na­me­si­schen Boat People. In: Webmap Hamburg Global, Eine Welt Netzwerk Hamburg e.V. 16.04.2014. https://www.hamburg-global.de/v1.0/placemarks/100 (Zugriff am 21.07.2023).

11Vgl. Matthias Möller: „Ein recht direktes Völkchen“? Mannheim-Schönau und die Darstellung kol­lek­tiver Gewalt gegen Flüchtlinge. Frankfurt am Main: Trotzdem 2007.

12So wurde die unmit­telbar nach den Angriffen auf das Sonnenblumenhaus und die Zentrale Aufnahmestelle orga­ni­sierte bun­des­weite Demonstration am 29. August 1992 in Rostock unter dem Motto „Stoppt die Pogrome“ durchgeführt.

13So ist im Abschlussbericht des 2. Untersuchungsausschusses des Landtags von Mecklenburg-Vorpommern ver­meintlich neutral von „Ereignissen“ (12 Erwähnungen) die Rede, wobei dieser wert­freie Begriff nicht in der Lage ist die tat­säch­liche Gewalt auch nur annä­hernd zu benennen und daher beschö­nigend wirkt. Im Bericht werden abwechseln auch die Begriffe „Krawalle“ (13), „Auseinandersetzungen“ (5), „Ausschreitungen“ (5), „Randale“ (2), Protest (1) und „Demonstration“ (1) ver­wandt. Dagegen tauchen auf den 51 Seiten des Berichts an keiner Stelle die Begriffe „Pogrom“ und „Rassismus“ bzw. „ras­sis­tisch“ auf. Vgl. Drucksache 13771, 04.11.1993.

14Vgl. Kien Nghi Ha: Rostock-Lichtenhagen – Die Rückkehr des Verdrängten. In: Ders. (Hrsg.): Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond. Berlin / Hamburg: Assoziation A 2021, S. 150–166. Erstveröffentlichung: Heinrich Böll Stiftung, September 2012. https://heimatkunde.boell.de/de/2012/09/01/rostock-lichtenhagen-die-rueckkehr-des-verdraengten (Zugriff am 20.02.2023).

15So haben die Sicherheitsbehörden mit ihren mehr­heitlich bio­deut­schen Mitarbeiter:innen das ras­sis­tische Motiv nicht erkannt und die Opfer ver­dächtigt. Trotz feh­lender Indizien rechnete die „Soko Bosporus“ über Jahre hinweg die „Dönermorde“ auf­grund eigener Vorurteile unbeirrt der „Türken-Mafia“ zu, die Schutzgelder und Wettschulden erpressen wolle oder aus Rache „Ehrenmorde“ beginge. Vgl. Hajo Funke: Staatsaffäre NSU. Eine offene Untersuchung. Münster / Berlin: Kontur 2015, S. 308–342; Juliane Karakayali/Çagri Kahveci/Doris Liebscher/Carl Melchers (Hrsg.): Den NSU-Komplex ana­ly­sieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: tran­script 2017; Tanjev Schultz: NSU. Der Terror von rechts und das Versagen des Staates. München: Droemer 2018.

16So wurde in der Pressemitteilung „30 Jahre Pogrom von Rostock-Lichtenhagen: ‚Gedenken – Aufklären – Gestalten‘“ vom 22.08.2022 zur zen­tralen Gedenkveranstaltung mit dem Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ein­ge­laden. Siehe https://rathaus.rostock.de/de/rathaus/aktuelles_medien/30_jahre_pogrom_von_rostock_lichtenhagen_gedenken_aufklaeren_gestalten/329398 (Zugriff am 20.02.2023).

17Wissenschaftliche Dienste Deutscher Bundestag: Pogrome. Definition und Fallbeispiele. Aktenzeichen WD 1 – 3000 – 02322, 29.07.2022. hier S. 8–9. https://www.bundestag.de/resource/blob/908734/5dea5b3a56c9f5afab0f73bf9e20b7b6/WD‑1–023-22-pdf-data.pdf (Zugriff am 16.07.2023).

18Ebd. S. 14–15.

19Ebd. S. 8–10. Bereits die Publikation des Gutachtens drei Wochen vor dem 30. Jahrestags des Pogroms kann als deut­liches gesell­schafts­po­li­ti­sches Statement gelesen werden.

20Vgl. Thomas Prenzel: Rostock-Lichtenhagen und die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl. In: Ders. (Hrsg.): 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Kontext, Dimensionen und Folgen der ras­sis­ti­schen Gewalt. Universität Rostock. Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften 2012, S. 9–29, hier S. 10. https://doi.org/10.18453/rosdok_id00003587 (Open Access)

21William Macpherson: The Stephen Lawrence Inquiry. Presented to Parliament by the Secretary of State for the Home Department by Command of Her Majesty. London: 1999, hier Punkt 6.34.

22Fernsehansprache anlässlich des Inkrafttretens der Währungs‑, Wirtschafts- und Sozialunion am 1. Juli 1990.

23Hajo Funke: Brandstifter. Deutschland zwi­schen Demokratie und völ­ki­schem Nationalismus. Göttingen: Lamuv 1993, S. 50–66; 106–108.

24Bundeszentrale für poli­tische Bildung: Arbeitslose und Arbeitslosenquote. In abso­luten Zahlen und in Prozent aller zivilen Erwerbspersonen, 1980 bis 2013, 2014, hier S. 6. https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/01%20Arbeitslose%20und%20Arbeitslosenquote_0.pdf (Zugriff am 25.02.2023).

25Johann Gerdes, Annett Jackisch, Christoph Schützler: Lagebericht zur sozialen Situation in der Hansestadt Rostock. Universität Rostock: 2005, S. 32. DER SPIEGEL gibt ohne Zeitbezug die Arbeitslosenquote in Rostock mit 13 % und im Stadtteil Lichtenhagen mit 17 % an. Vgl. DER SPIEGEL: „Ernstes Zeichen an der Wand“, Nr. 361992. 30.08.1992. https://www.spiegel.de/politik/ernstes-zeichen-an-der-wand-a-eb1b8609-0002–0001-0000–000013689982 (Zugriff am 25.02.2023).

26Ulrich Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Bonn: bpb 2003, S. 299.

27Nur ein Beispiel von vielen, um den unver­hoh­lenen Rassismus im dama­ligen poli­ti­schen Diskurs der demo­kra­ti­schen Volksparteien zu illus­trieren: „Es kann nicht sein, dass ein Teil der Ausländer bet­telnd, betrügend, ja auch mes­ser­ste­chend durch die Straßen ziehen, fest­ge­nommen werden und nur, weil sie das Wort ‚Asyl‘ rufen, dem Steuerzahler auf der Tasche liegen.“ (Klaus Landowsky, CDU-Fraktionsvorsitzender in Berlin, In: Stern, Nr. 43 vom 17.10.1991).

28Vgl. Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 263–273; 296–322.

29Die Eskalationsspirale gegen­sei­tiger rhe­to­ri­scher Übertrumpfungen führte zu einer ent­hemmten Debatte, die ein sehr breites poli­ti­sches Spektrum umfasste. Wie ent­fesselt der poli­tische Extremismus der Mitte war, zeigte etwa Friedhelm Farthmann, Vorsitzender der SPD-Landtagsfraktion in NRW und spä­terer Ehrenvorsitzender der Deutschen Stiftung Patientenschutz des Malteserordens. Er schlug vor „Asylanten“ auf diesem Weg abzu­schieben: „Kurzen Prozess, an Kopf und Kragen packen und raus damit!“ (17.03.1992) Später blies Gerhard Schröder als SPD-Ministerpräsident von Niedersachsen im Landeswahlkampf ins gleiche Horn. Im Interview mit BILD am Sonntag for­derte er „Wer unser Gastrecht miss­braucht, für den gibt es nur eins: raus und zwar schnell?“ (20.07.1997). Trotz oder gerade wegen solcher Aussagen wurde er SPD-Vorsitzender und Bundeskanzler (1998–2005).

30In Berlin erzielten die „Republikaner“ 7,5 % (1989) und in Baden-Württemberg sogar 10,9 % (1992). Die rechts­extreme Deutsche Volksunion (DVU) kam in Bremen auf 6,2 % (1991), in Schleswig-Holstein auf 6,3 % (1992) und erreichte in Sachsen-Anhalt mit 12,9 % (1998) ihr bestes Wahlergebnis.

31Vgl. Prenzel: Rostock-Lichtenhagen und die Einschränkung des Grundrechts auf Asyl, S. 13–15.

32Vgl. Jochen Schmidt: Politische Brandstiftung. Warum 1992 in Rostock das Ausländerwohnheim in Flammen aufging. Berlin: Edition Ost 2002, S. 154–196.

33Vgl. Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 303.

34Vgl. Margaret Jäger: BrandSätze und SchlagZeilen. Rassismus in den Medien. In: Forschungsinstitut der Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Entstehung von Fremdenfeindlichkeit. Die Verantwortung von Politik und Medien. Bonn: 1993, S. 73–92.

35Vgl. Jesus Manuel Delgado: Die „Gastarbeiter“ in der Presse. Eine inhalts­ana­ly­tische Studie. Opladen: Leske 1972. Siehe auch diese medi­en­wis­sen­schaft­liche Metastudie, die die Ergebnisse von zwölf empi­ri­schen Untersuchungen lokaler und über­re­gio­naler Zeitungen aus den Jahren 1972 bis 2000 zusam­men­fasst: Daniel Müller: Die Darstellung eth­ni­scher Minderheiten in deut­schen Massenmedien. In: Rainer Geißler / Horst Pöttker (Hrsg.): Massenmedien und die Integration eth­ni­scher Minderheiten in Deutschland. Bielefeld: tran­script 2015. S. 83–126.

36Vgl. Christine Horz: Fluchtmigration in den Medien. Stereotypisierungen, Medienanalyse und Effekte der ras­si­fi­zierten Medienberichterstattung. In: Meltem Kulaçatan / Harry Harun Behr (Hrsg.): Migration, Religion, Gender und Bildung: Beiträge zu einem erwei­terten Verständnis von Intersektionalität. Bielefeld: tran­script 2020, S. 175–210; Marcus Maurer et al.: Fünf Jahre Medienberichterstattung über Flucht und Migration. Johannes Gutenberg-Universität Mainz: Institut für Publizistik 2021. https://www.stiftung-mercator.de/content/uploads/2021/07/Medienanalyse_Flucht_Migration.pdf (20.02.2023).

37Vgl. Herbert: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland, S. 303.

38Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Schlagzeilen. Rostock: Rassismus in den Medien, Duisburg: DISS 1993, zweite durchges. Aufl.

39Vgl. Cord Pagenstecher: „Das Boot ist voll“. Schreckensvision des ver­einten Deutschland. In: Gerhard Paul (Hrsg.): Das Jahrhundert der Bilder, Band II: 1949 bis heute. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008, S. 606–613.

40Heutzutage wird der Begriff „Geflüchtete“ bevorzugt, da die Bezeichnung „Flüchtling“ ver­nied­li­chend und die Endung ‑ling häufig mit negativ asso­zi­ierten Wörtern wie Fiesling besetzt sei. Trotzdem ist daran zu erinnern, dass nur der letzt­ge­nannte Begriff laut Genfer Flüchtlingskonvention inter­na­tional aner­kannt ist und einen gesetz­lichen Schutzstatus dar­stellt. Vgl. Andrea Kothen: Sagt man jetzt Flüchtlinge oder Geflüchtete?, In: Pro Asyl, 01.06.2016. https://www.proasyl.de/hintergrund/sagt-man-jetzt-fluechtlinge-oder-gefluechtete/ (Zugriff am 01.07.2023).

41Vgl. Jäger: BrandSätze und SchlagZeilen, S. 73–92.

42Vgl. Prenzel: Rostock-Lichtenhagen, S. 13–17.

43Roman Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen: Aufarbeitung und Perspektiven des Gedenkens. In: Thomas Prenzel (Hrsg.): 20 Jahre Rostock-Lichtenhagen. Universität Rostock. Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften 2012, S. 31–52, hier S. 34.

44Helmut Kellershohn: „Der Feind steht links!“. In: Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Schlagzeilen, S. 55–71.

45Vgl. Toralf Staud: Straf- und Gewalttaten von rechts: Was sagen die offi­zi­ellen Statistiken?, In: Bundeszentrale für poli­tische Bildung, 13.11.2018. https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/264178/straf-und-gewalttaten-von-rechts-was-sagen-die-offiziellen-statistiken/ (Zugriff am 25.02.2023).

46DER SPIEGEL: „Ernstes Zeichen an der Wand“, o. S.

47In jün­gerer Zeit wird unter dem Hashtag #base­ball­schlä­ger­jahre an dieser Zeit erinnert. Vgl. Christian Bangel: #base­ball­schlä­ger­jahre. Ein Hashtag und seine Geschichten. In: APuZ, Nr. 49–50/2022, S. 4–9 und Fabian Virchow: Rechte Gewalt in Deutschland nach 1945. Eine Einordnung der 1990er Jahre. In: ebd., S.10–14.

48Vgl. Schmidt, Politische Brandstiftung, S. 54–68; Prenzel: Rostock-Lichtenhagen, S. 16–17.

49Vgl. taz: Brief des Oberbürgermeisters belegt. Rostocker Warnung ein Jahr igno­riert. In: taz, 5.9.1992, S. 1.

50DER SPIEGEL: „Ernstes Zeichen an der Wand“, o. S.

51Vgl. Otto Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock – Versuch einer ana­ly­ti­schen Würdigung. In: CILIP, Nr. 44, 22.02.1993. https://www.cilip.de/1993/02/22/das-polizeidebakel-von-rostock-versuch-einer-analytischen-wuerdigung/ (Zugriff am 25.02.2023).

52Parlamentarischer Untersuchungsausschuss des Landtags Mecklenburg-Vorpommern: Beschlussempfehlung und Zwischenbericht. 16. Juni 1993, S. 48.

53Vgl. Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock.

54Jochen Schmidt bei der Buchvorstellung von „Politische Brandstiftung“ zit. nach Heike Kleffner: Pogrom gewollt?. In: taz, 21.08.2002, S. 8.

55Vgl. Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock; Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 32–34.

56Jochen Schmidt: Das Haus brennt! – Die Asyldebatte und ihre Parallelen 1992 und heute , Vortrag in Synagoge und Kulturzentrum Marburg, 27.09.2016. https://www.youtube.com/watch?v=vRzYbMJ24RE (Zugriff am 25.02.2023), hier 9:00–9:12.

57Ebd., hier 35:45–35:55.

58Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_in_Rostock-Lichtenhagen#Unzureichender_Polizeieinsatz (Zugriff am 25.02.2023).

59Prenzel: Rostock-Lichtenhagen, S. 24.

60Vgl. Benjamin Unger: Zeitreise. Rostocker Polizeichef im Rotlicht-Strudel. In: NDR, 06.01.2023. https://www.ndr.de/geschichte/Zeitreise-Rostocker-Polizeichef-im-Rotlicht-Strudel,rostockerrotlicht100.html (Zugriff am 25.02.2023).

61Vgl. DER SPIEGEL: Polizei Tod im Bienenstock. In: DER SPIEGEL, Nr. 491994, 04.12.1994. https://www.spiegel.de/politik/tod-im-bienenstock-a-b43a33e1-0002–0001-0000–000013686169 (Zugriff am 25.02.2023).

62Hierzu zählt der „Pakt von Rostock“ mit einem selbst­er­nannten Anführer des gewalt­tä­tigen Mobs, um auf dieser Grundlage den Rückzug der letzten Polizeieinheiten vor dem Wohnheim anzu­ordnen. Vgl. Diederichs: Das Polizeidebakel von Rostock.

63Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Ausschreitungen_in_Rostock-Lichtenhagen#Juristische_Aufarbeitung (Zugriff am 25.02.2023).

64Peter Gärtner: Urteile im Lichtenhagen-Prozess. In: Weser-Kurier, 18.06.2002 zit. nach Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 35–38, hier S. 38.

65Diese These ist nicht neu, sondern wurde bereits unmit­telbar nach dem Pogrom dis­ku­tiert. Vgl. etwa das Kapitel „Rostock-Gate: Das poli­tisch zuge­lassene und geför­derte Pogrom?“ in Funke: Brandstifter, 103–177.

66Schmidt: Das Haus brennt!, 45:05–46:47; 51:20–54:28, hier 54:02.

67Beispielsweise listet Amazon im Februar 2023 unter der Buchrubrik „Terrorismus & Extremismus“ 127 Angebote zum Stichwort „NSU“ mit einer relativ hohen Trefferquote und nur drei Angebote zu Lichtenhagen, die sich aber all­gemein mit Rechtsextremismus beschäftigen.

68Ein her­aus­ra­gendes Beispiel ist das dezen­trale und inter­dis­zi­plinäre Theaterprojekt „Kein Schlussstrich!“ mit einer ange­glie­derten Ausstellung sowie einem umfang­reichen Diskurs- und Rahmenprogramm, welches 2021 zum zehn­jäh­rigen Gedenken der Opfer der NSU-Morde von 18 Trägern in 15 Städten mit mehr als 700 Vorstellungen durch­ge­führt wurde. Eine zusam­men­fas­sende Übersicht findet sich hier: https://de.wikipedia.org/wiki/Nationalsozialistischer_Untergrund#Theater_und_Oper (Zugriff am 25.02.2023).

69Das Stück erwähnt zwar die anti-ziganistischen Angriffe auf die Roma-Familien in der ZAST, kann aber ihre Erfahrungen auch aus prak­ti­schen Gründen nicht reprä­sen­tieren, da ihr Verbleib durch Abschiebungen unklar war.

70Vgl. Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 40–41.

71Vgl. Figge, Maja: Rassistische Gewalt und ihre Rahmungen. Zur fil­mi­schen Erinnerung in Burhan Qurbanis WIR SIND JUNG. WIR SIND STARK. In: montage AV. Zeitschrift für Theorie und Geschichte audio­vi­su­eller Kommunikation. 25,2 (2016), S. 37–54.

72Vgl. Bündnis „Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992“: Kommentar zur NDR Sendung „Die Narbe“, 28.04.2022. https://gedenken-lichtenhagen.de/kommentar-die-narbe-ndr/ (Zugriff am 25.02.2023).

73Vgl. Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 43–44.

74Vgl. Guski: Nach Rostock-Lichtenhagen, S. 50; Tanja Thomas / Fabian Virchow: Hegemoniales Hören und Doing Memory an rechte Gewalt. Leviathan Sonderband 37 (2021), S. 205–226; Gudrun Heinrich: Rostock Lichtenhagen 1992–2017. Aufarbeitung und Erinnerung als Prozess der lokalen poli­ti­schen Kultur. In: Martin Koschkar / Clara Ruvituso (Hrsg.): Politische Führung im Spiegel regio­naler poli­ti­scher Kultur. Wiesbaden: Springer VS 2018, S. 293–309.

75Hansestadt Rostock: Nichtoffener Kunstwettbewerb „Erinnern und Mahnen an Rostock-Lichtenhagen 1992“. 2016.

76Projektwebsite: www.rostock-lichtenhagen-1992.de (Zugriff am 25.02.2023).

77So Claudia Carla (Evangelischen Akademie der Nordkirche) und Lisa Radl (Stadtteilmanagerin Rostock-Lichtenhagen) in Heinrich-Böll-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern: Rostock-Lichtenhagen 1992: Gedenken im öffent­lichen Raum, 0:50–1:03; 5:35–6:00. https://www.youtube.com/watch?v=wzVhWJUKZ74 (Zugriff am 25.02.2023).