Dr. Kien Nghi Ha (Asian German Studies, Universität Tübingen)
Der am 16.04.2021 veröffentlichte Offene Brief wurde zum Zeitpunkt seines Erscheinens von 32 asiatisch-deutschen bzw. asiatisch-diasporischen Organisationen und 235 Personen mitgetragen. Hinzu kommen weitere solidarische 175 Individuen sowie 93 unterstützende Organisationen, neben der Amadeu Antonio Stiftung, dem Bundesjugendwerk der Arbeiterwohlfahrt, Each One Teach One, der Stiftung Asienhaus und der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt auch die großen bundesweit agierenden migrantischen Verbände: Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, Dachverband der Migrant:innenorganisationen in Ostdeutschland, DaMigra – Dachverband der Migrantinnenorganisationen, neue deutsche organisationen und der Verband für interkulturelle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity.
Nachdem der Offene Brief veröffentlicht wurde, folgten viele weitere Mitzeichnungen. Bis zum 16.05.2021 haben zusätzlich 46 Organisationen und 601 weitere Einzelpersonen den Brief mitgezeichnet. Darunter sind Dachorganisationen wie der Antidiskriminierungsverband Deutschland, lokale Verbünde wie der Raum der Kulturen in Neuss oder das bundesweit tätige Aktionsbündnis muslimischer Frauen in Deutschland, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und der Verband binationaler Familien und Partnerschaften. Ebenso folgten weitere asiatisch-deutsche Initiativen dem Aufruf wie A.Unit / Afro-Asian Art Project (Wien), SrirachaHotNews (Offenbach am Main) und Vielfalt Vietnam e.V. (Frankfurt am Main).
Obwohl der Offene Brief vielfach Anklang gefunden hat und empowernd wirkt, möchte ich einen kritischen Punkt nicht verschweigen. Bereits kurz vor der Veröffentlichung des Offenen Briefes war mir die Auslassung der rassistischen Morde gegen deutsch-türkische Familien etwa in Mölln und Solingen in den 1990ern Jahren schmerzhaft aufgefallen. Es tut mir weh, dass diese Auslassung mir nicht schon viel früher aufgefallen ist, nämlich während der Abfassung. Im Brief können sicherlich nicht alle Formen rassistischer Gewalt und Ausgrenzung repräsentiert werden. Die Erwähnung von „Hanau“ steht als symbolisches Zeichen, dass in diesem Brief diese anderen Formen mitgedacht werden, auch wenn sie nicht explizit genannt werden. Trotzdem ist das nicht ausreichend, weil das Ungleichgewicht, aber auch die Fragen nach politischer Zentrierung fortbestehen. Vielleicht war dieses Übergehen aber auch eine unterbewusste, funktionale Betriebsblindheit, um diesen Brief überhaupt schreiben zu können und um sich nicht mit der Frage beschäftigen zu müssen, ob der Offene Brief Menschen mit etwa arabischen, indischen, iranischen, kurdischen oder türkischen Vibes politisch als asiatisch-deutsche Betroffene claimen bzw. kontextualisieren darf. Die diffuse, poröse wie widersprüchliche Grenze zwischen unintendierter Ausgrenzung und ungewollter Vereinnahmung ist sehr klein, zur Zeit auf der bewegungspolitischen Community-Ebene unentschieden und daher nur individuell verhandelbar. Aus diesem Grunde war es uns bei den Unterschriften wichtig zu fragen, wie die Betroffenen sich selbst verorten und positionieren. Auf der Ebene der politischen Repräsentation hätte ich zumindest im Möllner Fall İbrahim Arslan fragen können, der 1992 den rassistischen Brandanschlag auf seine Familie überlebte, ob es für ihn Sinn macht, seine Großmutter Bahide Arslan, seine Schwester Yeliz Arslan und seine Cousine Ayşe Yılmaz in diesem Brief namentlich zu erwähnen.
Trotz dieser schwierigen Ambiguität kann dieser Offener Brief in asiatisch-deutschen Zusammenhängen als bahnbrechend bezeichnet werden: Erstmalig hat sich eine sehr breite und starke Koalition von verschiedenen asiatisch-deutschen und asiatisch-diasporischen Organisationen zusammengeschlossen, um öffentlich gegenseitige, transnationale und interkommunale Solidarität gegen anti-asiatischen Rassismus zu demonstrieren. Ebenso ist die wachsende Unterstützung durch NGOs of Color und andere solidarische Organisationen beeindruckend. Zu guter Letzt hat dieser Offene Brief Asiatische Deutsche, asiatisch-diasporische, asiatische und asiatisch identifizierte Menschen, die in und außerhalb Deutschlands leben, dazu ermutigt, politische Forderungen zu erheben. Außergewöhnlich ist auch die intergenerationale, crosskulturelle und sozial inklusive Zusammensetzung der Supporter aus sehr unterschiedlichen asiatischen Communities: Sie reicht vom Koch, Sicherheitsfachmann und Handelstreibenden bis hin zu den üblichen Aktivist*innen, Akademiker*innen und Kulturschaffenden. Neben Zeichnungen von altbekannten Community-Mitgliedern sind auch viele neue Namen von Studierenden und z.T. auch Schüler*innen zu lesen, die sich in diesem Brief wiederfinden können. Ebenso wesentlich ist die Tatsache, dass in diesem Brief Menschen mit Namen aus dem arabischen, türkischen und süd- und westasiatischen Sprachraum sich selbst als Asiatische Deutsche identifizieren – für viele wahrscheinlich zum allerersten Mal.
Aus all diesen Gründen, sowohl was die Stärken als auch die Unzulänglichkeiten angeht, ist das gemeinsame und möglichst gleichberechtigte Coming to Voice ungemein wichtig. Es ist davon auszugehen, dass dieser Offene Brief nicht nur ein Meilenstein bei der Formierung und Öffnung der Bewegung der Asiatischen Deutschen darstellt, sondern sich hoffentlich auch als ein historisches Dokument auf dem Weg in ein postmigrantisches und postkoloniales Deutschland erweisen wird.
Link zum Offenen Brief: www.korientation.de/atlanta-offener-brief
Groundbreaking in Several Ways: On the Significance of this Open Letter in the Asian-German Context
Dr. Kien Nghi Ha (Asian German Studies, University of Tübingen)
The open letter was co-signed by 32 Asian-German and Asian-Diasporic organizations and 235 self-identified Asian individuals at the time of its publication. In addition, there are another 175 individuals in solidarity as well as 93 supporting organizations like Amadeu Antonio Foundation, Federal Workers‘ Welfare Youth Organization, Each One Teach One, Asia House Foundation and the Association of Counseling Centers for Victims of Right-Wing, Racist and Anti-Semitic Violence in Germany (VBRG). Furthermore, the major federal immigrant associations are first signatories of the open letter: BAGIV (Federal Working Group of Immigrant Associations), BKMO (Federal Conference of Migrant Organizations), DAMOST (Umbrella Association of Migrants Organizations in East Germany), DaMigra (Umbrella Association of Migrant Women’s Self Organizations), ndo (New German Organizations) and VIW (Association for Intercultural Welfare, Empowerment and Diversity).
After the open letter was published, many more co-signatories followed. By May 16, 2021, more than 46 organizations and 601 individuals have additionally signed the letter, including umbrella organizations such as the Federal Anti-Discrimination Agency of Germany, local alliances such as Space for Cultures in Neuss or the nationwide Action Alliance of Muslim Women in Germany (AmF), Association of Binational Families and Partnerships (IAF) and the Initiative of Black People in Germany (ISD). Likewise, other Asian-German initiatives followed the call such as A.Unit / Afro-Asian Art Project (Vienna), SrirachaHotNews (Offenbach am Main) and Diverse Vietnam (Frankfurt am Main).
Although the open letter has been well received and has an empowering effect, I do not want to conceal a critical point. Shortly before the publication of the open letter, I was painfully aware of the omission of the racist murders against German-Turkish families, for example in Mölln and Solingen in the 1990s. It pains me that this omission did not occur to me much earlier, during the drafting. Certainly not all forms of racist violence and exclusion can be represented in the letter. The mention of “Hanau” stands as a symbolic sign that in this letter these other victims are also thought of even if they are not explicitly mentioned. Nevertheless, this is not sufficient because the imbalance as well as the questions of political centering and focus persist. Perhaps this omission was also a subconscious, functional operational blindness in order to be able to write this letter at all and in order not to have to deal with the difficult question of whether the open letter is politically entitled to claim or contextualize people with for example Arab, Indian, Iranian, Kurdish, or Turkish vibes as Asian-Germans. The diffuse, porous and contradictory line between unintentional exclusion and unintentional appropriation is very small, currently undecided at the community level, and only individually negotiable. Therefore, it was important for us to ask how the people affected position themselves when co-signing this letter. On the level of political representation, I could have asked İbrahim Arslan, who survived the racist arson attack on his family in 1992 in Mölln, whether it made sense for him to mention his grandmother Bahide Arslan, his sister Yeliz Arslan and his cousin Ayşe Yılmaz by name in this letter.
However, the open letter is groundbreaking for the Asian-German context despite this difficult ambiguity in several ways: For the first time, a very broad and strong coalition of diverse Asian-German and Asian-Diasporic organizations has come together to publicly demonstrate mutual, transnational, and intercommunal solidarity against anti-Asian racism. Likewise, the growing support from NGOs of Color and other progressive organizations has been impressive. Last but not least, this open letter has encouraged Asian Germans, Asian diasporic, Asian and Asian identified people living in and outside of Germany to raise political demands. The intergenerational, cross-cultural and socially inclusive composition of supporters from very different Asian communities is also striking: it ranges from cooks, security professionals and tradesmen to the usual suspects including activists, academics and cultural workers. There are veteran and well-known community members but also many new names of Asian students and in some cases even pupils who can be found in this letter. Equally essential is the fact that people with names from the Arabic, Turkish, South and West Asian languages identify themselves in this open letter as Asian Germans – for many also for the very first time.
For all these reasons, pointing to the strengths as well as the shortcomings of this open letter, this joint and equality-based coming to voice is immensely important. It can be assumed that this open letter will not only be a milestone in the formation and diversification of the Asian German Movement, but will hopefully also prove to be a historical document on the way to a post-migrant and post-colonial Germany.
Link to the Open Letter: www.korientation.de/atlanta-offener-brief/#englishversion
Kien Nghi Ha, promovierter Kultur- und Politikwissenschaftler, forscht zu Asian German Studies an der Universität Tübingen. Als Publizist und Kurator arbeitet er auch zu postkolonialer Kritik, Rassismus und Migration. Neueste Publikationen sind unter anderem der Sammelband Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond (VÖ Juni 2021) als erweiterte Neuauflage sowie das für die Heinrich Böll Stiftung herausgegebene Dossier Geschlossene Gesellschaft? Exklusion und rassistische Diskriminierung an deutschen Universitäten.