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“Nachdem mein Vater 1968 als soge­nannter „Gastarbeiter“ nach Deutschland geholt und ich 1977 hier geboren wurde, darf ich immer noch nicht hier wählen. Ich bin Deutscher, ich werde niemals in “die Heimat” zurück­kehren, denn ich bin schon längst da.” Miman Jasarovski, Aktivist und Protagonist von FROM HERE, Mit-Initiator der Kampagne “Passt(t) uns allen”

Das von der Bundesregierung kürzlich ver­ab­schiedete “Chancenaufenthaltsrecht” und die geplante Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes sind zwar Schritte in die richtige Richtung, doch noch weit ent­fernt von einem „modernen Einwanderungsland“ von dem Olaf Scholz spricht. Die Zeit ist mehr als reif, um endlich unsere Kampagne “Passt(t) uns allen” zu starten! Die Umsetzung unserer Forderungen ist über­fällig. Seit Jahrzehnten kämpfen Migrant*innen und soli­da­rische Menschen für die Gleichbehandlung aller, die in Deutschland leben. Es wird Zeit, dass es endlich Realität wird.

In Deutschland leben aktuell mehr als 11 Mio. Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit1,5 Mio von ihnen haben keinen deut­schen Pass, obwohl sie hier geboren sind. Zugleich liegt die Einbürgerungsquote mit unter 2% im unteren Drittel der EU. Wenn Menschen, die seit Jahren hier leben oder hier geboren sind, nicht vor Abschiebung geschützt sind, nicht wählen dürfen und in ihrem Alltag zahl­reichen Beschränkungen unter­liegen, ist das nicht nur unge­recht, sondern auch ein mas­sives Demokratiedefizit! Auch ange­sichts von rechts­ter­ro­ris­ti­schen Anschlägen und Alltagsrassismus ist es zentral, dass vor allem jene, die davon betroffen sind, wählen und selbst poli­tische Ämter wahr­nehmen können. Nur wer wählt, zählt.

Wir sind ein Bündnis von rund 30 migran­ti­schen und ras­sis­mus­kri­ti­schen Interessenvertretungen, Selbstorganisationen, Initiativen und Einzelpersonen. Wir fordern: 

  1. Die deutsche Staatsangehörigkeit für alle Menschen, die in Deutschland geboren sind. 
  2. Das Recht auf eine unbü­ro­kra­tische und kos­tenlose Einbürgerung für alle Menschen, die seit min­destens drei Jahren ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben.
  3. Die Möglichkeit, mehr­fache Staatsangehörigkeiten zu besitzen.
  4. Das aktive und passive Wahlrecht auf Bundes‑, Landes- und kom­mu­naler Ebene für alle Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt seit min­destens drei Jahren in Deutschland haben. 

Unterzeichne unsere Petition, Teile die Petition in deinen Netzwerken, schicke eine E‑mail an Bundestagsabgeordnete und fordere sie auf unsere Forderungen zu unter­stützen oder mache ein Video von dir, warum du die Forderungen unter­stützt und schicke es uns!

Unterzeichne die Petition: https://innn.it/PasstUnsAllen
Kampagnen-Webseite: https://passtunsallen.de

HINTERGRUND

Deutschland hält an dem Abstammungsprinzip fest, wonach ein Kind die Staatsbürgerschaft seiner deut­schen Eltern (oder zumindest eines Elternteils) auto­ma­tisch erhält. Diese Regelung basiert auf dem ras­sis­ti­schen Prinzip der Blutsverwandtschaft (ius san­guinis). Für Kinder aus­län­di­scher Eltern ist die deutsche Staatsangehörigkeit an Voraussetzungen geknüpft. Mindestens ein Elternteil muss seit acht Jahren über ein Aufenthaltsrecht ver­fügen. Diese Praxis ver­hindert, dass tau­sende Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten – und das teil­weise über Generationen hinweg. So sind auch Menschen, die hier geboren wurden, staa­tenlosvon Abschiebung bedroht oder wurden bereits abge­schoben – in Länder, deren Sprache sie oft nicht sprechen, wo sie nie­manden kennen und häufig dis­kri­mi­niert werden. Dass es auch anders möglich ist, zeigen 33 Länder weltweit, in denen ein unein­ge­schränktes Geburtsortprinzip gilt. Das heißt, Kinder, die dort geboren werden, erhalten sofort die Staatsangehörigkeit. Unabhängig von der Staatsangehörigkeit und dem Aufenthaltsstatus der Eltern. 

Wir fordern: Ein uneingeschränktes Geburtsortprinzip – Pass(t) uns allen!

Aktuell sind die Voraussetzungen für eine Einbürgerung unnötig hoch. So können Armut, der Verlust der Wohnung, des Arbeitsplatzes oder das Fahren ohne Fahrschein schon Gründe dafür sein, die Einbürgerung ver­wehrt zu bekommen. Wie schnell die Einbürgerung erfolgt, unter­scheidet sich von Bundesland zu Bundesland – teil­weise von Kommune zu Kommune – und ist von der für den Antrag zustän­digen Person abhängig. Ein häufig lang­wie­riger, demü­ti­gender und intrans­pa­renter Prozess. Doch eine unbü­ro­kra­tische Einbürgerung ist möglich. Das zeigt das Beispiel von Millionen “(Spät) Aussiedler*innen”. Wir sollten von dieser posi­tiven Erfahrung lernen.

Wir fordern die Abschaffung aller Einbürgerungshürden – Pass(t) uns allen!

Die Aufgabe der bis­he­rigen Staatsangehörigkeit/en als Voraussetzung für die Einbürgerung hält derzeit viele Menschen davon ab, sich ein­bürgern zu lassen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der es selbst­ver­ständlich ist, dass nicht alle Kinder deutsche Eltern haben, dass Menschen migrieren und bleiben, an meh­reren Orten zu Hause sind und gesell­schaft­liche Prozesse, wo sie sind, mit­ge­stalten. Genauso sollte es selbst­ver­ständlich sein, mehrere Staatsangehörigkeiten zu besitzen. Für viele ist eine dop­pelte Staatsangehörigkeit bereits Alltag und stellt kein grö­ßeres Problem dar. Dass diese Möglichkeit nicht für alle besteht, ist unge­recht und diskriminierend.

Wir fordern Mehrfachstaatsangehörigkeiten – Pass(t) uns allen!

Wer sich ein­bürgern lassen will, muss seit min­destens acht Jahren mit einem unbe­fris­teten Aufenthaltsrecht oder einer auf Dauer ange­legten Aufenthaltserlaubnis in Deutschland leben. Die Ampel-Koalition hat ange­kündigt, den Erwerb der Staatsangehörigkeit zu ver­ein­fachen und “bei beson­deren Integrationsleistungen” schon nach drei Jahren zu ermög­lichen. Das reicht nicht aus! Der Erwerb der Staatsangehörigkeit darf weder von ver­meint­lichen “Integrationsleistungen” noch vom Aufenthaltsstatus abhängen. Statt einer Hierarchisierung von gesell­schaft­licher Teilhabe und Sondergesetzen, wie dem Asylverfahrens- oder Asylbewerberleistungsgesetz, müssen alle gleiche Rechte haben: Das Recht, ohne Angst vor Abschiebung zu leben, den Wohnort frei wählen zu können, Zugang zu gesund­heit­licher Versorgung zu haben, zu reisen und das Leben selbst­be­stimmt zu gestalten.

Wir fordern ein Recht auf Einbürgerung nach drei Jahren für alle, die ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland haben – Pass(t) uns allen!

Selbst wählen zu können oder sich zur Wahl auf­stellen zu lassen, ist der Grundpfeiler einer Demokratie. Alle, die von poli­ti­schen Entscheidungen betroffen sind, müssen diese beein­flussen können, auch wenn sie sich nicht für eine Einbürgerung ent­scheiden. Das Wahlrecht darf nicht von der deut­schen Staatsangehörigkeit, dem Pass abhängen, sondern davon, wo Menschen leben. Bereits seit den 70er Jahren kämpfen Migrant*innen für ein Wahlrecht für alle. Es wird Zeit, dass es endlich Realität wird. 

Wir fordern Wahlrecht für alle – Pass(t) uns allen!

WER WIR SIND 

Wir sind ein Bündnis aus migran­ti­schen und ras­sis­mus­kri­ti­schen Interessenvertretungen, Selbstorganisationen, Initiativen und Einzelpersonen. Zum Bündnis gehören: 

  1. Allerweltshaus Köln e.V. 
  2. Allmende e. V.
  3. BBZ- Beratungszentrum und Betreuungszentrum für junge Flüchtlinge und Migrant*innen 
  4. Bundes Roma Verband 
  5. Bundesverband rus­sisch­spra­chiger Eltern e.V. (BVRE) 
  6. Coach e.V. 
  7. DaMOst 
  8. From Here
  9. In-Haus e.V. 
  10. Initiative – Nicht ohne uns-14 Prozent 
  11. Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V. (ISD)
  12. International Women Space (IWS)
  13. Jugendliche ohne Grenzen 
  14. kori­en­tation. Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven e.V 
  15. Lateinamerikanische Fraueninitiative in Neukölln e.V.
  16. MigLoom e.V. 
  17. MigraNetz e.V. 
  18. Migrationsrat Berlin e.V. 
  19. Netzwerk WIR WÄHLEN 
  20. neue deutsche orga­ni­sa­tionen – das post­mi­gran­tische netzwerk e.V.. 
  21. Refugees with Attitudes 
  22. Roma Antidiscrimination Network (RAN) 
  23. Roma Center e.V. 
  24. Roma-Trial 
  25. RomaniPhen e.V. 
  26. Romano Sumnal e.V.
  27. Seebrücke
  28. Statefree e.V.
  29. TBB-Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg 
  30. Trixiewiz e.V. 
  31. Türkische Gemeinde in Deutschland e.V.
  32. With Wings and Roots e.V.

AKTIV WERDEN 

Teile die Petition in deinen Netzwerken, schicke eine E‑mail an Bundestagsabgeordnete und fordere sie auf unsere Forderungen zu unter­stützen oder mache ein kurzes Video von dir, warum du die Forderungen unter­stützt und schicke es uns!

WEITERE INFORMATIONEN

Mehr über uns und die Forderungen auf: https://passtunsallen.de

Zur Petition: https://innn.it/PasstUnsAllen

Kampagenvideo anschauen:

Teil des Bündnisses werden oder Presseanfragen: post@passtunsallen.de 

WEITERE STATEMENTS AUS DEM BÜNDNIS: 

“Das von der Bundesregierung kürzlich ver­ab­schiedete Chancenaufenthaltsrecht und die geplante Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes sind zwar Schritte in die richtige Richtung, doch noch weit ent­fernt von einem „modernen Einwanderungsland“ von dem Olaf Scholz spricht. Aus eigener Erfahrung als soge­nannte „Aussiedlerin“, die knapp ein Jahr nach ihrer Ankunft in Deutschland ein­ge­bürgert wurde, weiß ich, dass eine andere Einbürgerungspraxis möglich ist! Die Umsetzung unserer Forderungen ist über­fällig. Seit Jahrzehnten kämpfen Migrant*innen und soli­da­rische Menschen für die Gleichbehandlung aller, die in Deutschland leben. Es wird Zeit, dass es endlich Realität wird”. Olga Gerstenberger, Politikwissenschaftlerin und Impact Producerin von FROM HERE, Mit-Initiatorin der Kampagne “Pass(t) uns allen”

“Wahlrecht für alle. Demokratie ist das Herz unserer Gesellschaft“. Sanaz Azimipour, Aktivistin, Autorin und Mitgründerin der Kampagne »Nicht ohne Uns 14 Prozent« 

„Seit 25 Jahren sind Bürger*innen mit aus­län­di­schem Pass (EU) kom­munal gleich­be­rech­tigte Wähler*innen und Stadträte. Die Zeit ist überreif für gleiche demo­kra­tische Rechte für Alle.“ Elisa Calzolari, MigraNetz Thüringen & Netzwerk WIR WÄHLEN

„Wir alle werden erst wirklich gesehen und ver­standen, wenn unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt auch akzep­tiert und aner­kannt wird. Dazu gehört selbst­ver­ständlich die Tatsache, dass ein Mensch mehrere Identitäten, mehrere Kulturen und mehrere Sprachen haben kann. Vielfalt zu leben und zu stärken bedeutet darum auch, Zugehörigkeiten Raum zu geben – und das bedeutet damit auch die Anerkennung von Mehrstaatlichkeit.“ Ayşe Demir, Vorstandssprecherin Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg (TBB)

„Menschen ohne staats­bür­ger­liche Rechte leben im per­ma­nenten Ausnahmezustand. Sie werden durch den Staat zu Menschen zweiter Klasse degra­diert. Ohne grund­le­gende Rechte müssen viele Betroffene sich ein Leben lang gegen struk­tu­rellen und insti­tu­tio­nellen Rassismus behaupten. Solange Deutschland ins­be­sondere Migrant*innen und geflüch­teten Menschen aus ehemals kolo­nia­li­sierten Gesellschaften dau­erhaft die Staatsbürgerschaft und das Wahlrecht ver­weigert, ist diese Gesellschaft weder deko­lo­nia­li­siert noch wirklich anti-rassistisch und demo­kra­tisch.” Dr. Kien Nghi Ha, Kulturwissenschaftler und Autor, Mitglied von kori­en­tation – Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven e.V.

„Insbesondere in einer Zeit, in der islam­feind­liche, flücht­lings­feind­liche und ras­sis­tische Aktivitäten zuge­nommen haben und immer mehr Zuspruch und Zulauf aus der soge­nannten Mitte der Gesellschaft erhalten, sollten Menschen, die von Diskriminierung und Rassismus betroffen sind, die Möglichkeit haben, das Land, in dem sie leben, in dem sie Steuern zahlen, in dem ihre Kinder zur Schule gehen, poli­tisch mit­zu­ge­stalten.“ Ayşe Demir, Vorstandssprecherin Türkischer Bund in Berlin-Brandenburg (TBB) 

„Ich sage immer: Andere Leute haben eine Karriereleiter, und bei uns ist das wirklich ein bisschen so eine Aufenthaltsleiter. Man klettert da hoch, und dann gibt es die Duldung, dann gibt es Asyl, Aufenthaltserlaubnis, Niederlassungserlaubnis. Und irgendwann schafft man es da hoch.“ Christiana Bukalo – Social Change Maker, Speakerin & Co-Gründerin, Statefree e.V.

“Uns ging und geht es nicht darum, „inte­grierte“, gut aus­ge­bildete, brauchbare Jugendliche zu werden, sondern darum, dass alle Menschen, die hier leben, ein Bleiberecht bekommen – egal, ob sie für diese kapi­ta­lis­tische Gesellschaft brauchbar oder ob sie alt oder krank sind oder kein Deutsch können, weil sie jah­relang in Lagern gelebt haben”. Mohammed Jouni, Mit-Gründer von Jugendliche ohne Grenzen

BlogPolitikVerein

Dr. Kien Nghi Ha (Asian German Studies, Universität Tübingen)

[English version below]

Der am 16.04.2021 ver­öf­fent­lichte Offene Brief wurde zum Zeitpunkt seines Erscheinens von 32 asiatisch-deutschen bzw. asiatisch-diasporischen Organisationen und 235 Personen mit­ge­tragen. Hinzu kommen weitere soli­da­rische 175 Individuen sowie 93 unter­stüt­zende Organisationen, neben der Amadeu Antonio Stiftung, dem Bundesjugendwerk der Arbeiterwohlfahrt, Each One Teach One, der Stiftung Asienhaus und der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, ras­sis­ti­scher und anti­se­mi­ti­scher Gewalt auch die großen bun­desweit agie­renden migran­ti­schen Verbände: Bundesarbeitsgemeinschaft der Immigrantenverbände, Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen, Dachverband der Migrant:innenorganisationen in Ostdeutschland, DaMigra – Dachverband der Migrantinnenorganisationen, neue deutsche orga­ni­sa­tionen und der Verband für inter­kul­tu­relle Wohlfahrtspflege, Empowerment und Diversity.

Nachdem der Offene Brief ver­öf­fent­licht wurde, folgten viele weitere Mitzeichnungen. Bis zum 16.05.2021 haben zusätzlich 46 Organisationen und 601 weitere Einzelpersonen den Brief mit­ge­zeichnet. Darunter sind Dachorganisationen wie der Antidiskriminierungsverband Deutschland, lokale Verbünde wie der Raum der Kulturen in Neuss oder das bun­desweit tätige Aktionsbündnis mus­li­mi­scher Frauen in Deutschland, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und der Verband bina­tio­naler Familien und Partnerschaften. Ebenso folgten weitere asiatisch-deutsche Initiativen dem Aufruf wie A.Unit / Afro-Asian Art Project (Wien), SrirachaHotNews (Offenbach am Main) und Vielfalt Vietnam e.V. (Frankfurt am Main).

Obwohl der Offene Brief vielfach Anklang gefunden hat und empowernd wirkt, möchte ich einen kri­ti­schen Punkt nicht ver­schweigen. Bereits kurz vor der Veröffentlichung des Offenen Briefes war mir die Auslassung der ras­sis­ti­schen Morde gegen deutsch-türkische Familien etwa in Mölln und Solingen in den 1990ern Jahren schmerzhaft auf­ge­fallen. Es tut mir weh, dass diese Auslassung mir nicht schon viel früher auf­ge­fallen ist, nämlich während der Abfassung. Im Brief können sicherlich nicht alle Formen ras­sis­ti­scher Gewalt und Ausgrenzung reprä­sen­tiert werden. Die Erwähnung von „Hanau“ steht als sym­bo­li­sches Zeichen, dass in diesem Brief diese anderen Formen mit­ge­dacht werden, auch wenn sie nicht explizit genannt werden. Trotzdem ist das nicht aus­rei­chend, weil das Ungleichgewicht, aber auch die Fragen nach poli­ti­scher Zentrierung fort­be­stehen. Vielleicht war dieses Übergehen aber auch eine unter­be­wusste, funk­tionale Betriebsblindheit, um diesen Brief über­haupt schreiben zu können und um sich nicht mit der Frage beschäf­tigen zu müssen, ob der Offene Brief Menschen mit etwa ara­bi­schen, indi­schen, ira­ni­schen, kur­di­schen oder tür­ki­schen Vibes poli­tisch als asiatisch-deutsche Betroffene claimen bzw. kon­tex­tua­li­sieren darf. Die diffuse, poröse wie wider­sprüch­liche Grenze zwi­schen unin­ten­dierter Ausgrenzung und unge­wollter Vereinnahmung ist sehr klein, zur Zeit auf der bewe­gungs­po­li­ti­schen Community-Ebene unent­schieden und daher nur indi­vi­duell ver­han­delbar. Aus diesem Grunde war es uns bei den Unterschriften wichtig zu fragen, wie die Betroffenen sich selbst ver­orten und posi­tio­nieren. Auf der Ebene der poli­ti­schen Repräsentation hätte ich zumindest im Möllner Fall İbrahim Arslan fragen können, der 1992 den ras­sis­ti­schen Brandanschlag auf seine Familie über­lebte, ob es für ihn Sinn macht, seine Großmutter Bahide Arslan, seine Schwester Yeliz Arslan und seine Cousine Ayşe Yılmaz in diesem Brief namentlich zu erwähnen.

Trotz dieser schwie­rigen Ambiguität kann dieser Offener Brief in asiatisch-deutschen Zusammenhängen als bahn­bre­chend bezeichnet werden: Erstmalig hat sich eine sehr breite und starke Koalition von ver­schie­denen asiatisch-deutschen und asiatisch-diasporischen Organisationen zusam­men­ge­schlossen, um öffentlich gegen­seitige, trans­na­tionale und inter­kom­munale Solidarität gegen anti-asiatischen Rassismus zu demons­trieren. Ebenso ist die wach­sende Unterstützung durch NGOs of Color und andere soli­da­rische Organisationen beein­dru­ckend. Zu guter Letzt hat dieser Offene Brief Asiatische Deutsche, asiatisch-diasporische, asia­tische und asia­tisch iden­ti­fi­zierte Menschen, die in und außerhalb Deutschlands leben, dazu ermutigt, poli­tische Forderungen zu erheben. Außergewöhnlich ist auch die inter­ge­ne­ra­tionale, cross­kul­tu­relle und sozial inklusive Zusammensetzung der Supporter aus sehr unter­schied­lichen asia­ti­schen Communities: Sie reicht vom Koch, Sicherheitsfachmann und Handelstreibenden bis hin zu den üblichen Aktivist*innen, Akademiker*innen und Kulturschaffenden. Neben Zeichnungen von alt­be­kannten Community-Mitgliedern sind auch viele neue Namen von Studierenden und z.T. auch Schüler*innen zu lesen, die sich in diesem Brief wie­der­finden können. Ebenso wesentlich ist die Tatsache, dass in diesem Brief Menschen mit Namen aus dem ara­bi­schen, tür­ki­schen und süd- und west­asia­ti­schen Sprachraum sich selbst als Asiatische Deutsche iden­ti­fi­zieren – für viele wahr­scheinlich zum aller­ersten Mal.

Aus all diesen Gründen, sowohl was die Stärken als auch die Unzulänglichkeiten angeht, ist das gemeinsame und mög­lichst gleich­be­rech­tigte Coming to Voice ungemein wichtig. Es ist davon aus­zu­gehen, dass dieser Offene Brief nicht nur ein Meilenstein bei der Formierung und Öffnung der Bewegung der Asiatischen Deutschen dar­stellt, sondern sich hof­fentlich auch als ein his­to­ri­sches Dokument auf dem Weg in ein post­mi­gran­ti­sches und post­ko­lo­niales Deutschland erweisen wird.

Link zum Offenen Brief: www.korientation.de/atlanta-offener-brief

Groundbreaking in Several Ways: On the Significance of this Open Letter in the Asian-German Context

Dr. Kien Nghi Ha (Asian German Studies, University of Tübingen)

The open letter was co-signed by 32 Asian-German and Asian-Diasporic orga­niza­tions and 235 self-identified Asian indi­vi­duals at the time of its publi­cation. In addition, there are another 175 indi­vi­duals in soli­darity as well as 93 sup­porting orga­niza­tions like Amadeu Antonio Foundation, Federal Workers‘ Welfare Youth Organization, Each One Teach One, Asia House Foundation and the Association of Counseling Centers for Victims of Right-Wing, Racist and Anti-Semitic Violence in Germany (VBRG). Furthermore, the major federal immi­grant asso­cia­tions are first signa­tories of the open letter: BAGIV (Federal Working Group of Immigrant Associations), BKMO (Federal Conference of Migrant Organizations), DAMOST (Umbrella Association of Migrants Organizations in East Germany), DaMigra (Umbrella Association of Migrant Women’s Self Organizations), ndo (New German Organizations) and VIW (Association for Intercultural Welfare, Empowerment and Diversity).

After the open letter was published, many more co-signatories fol­lowed. By May 16, 2021, more than 46 orga­niza­tions and 601 indi­vi­duals have addi­tio­nally signed the letter, including umbrella orga­niza­tions such as the Federal Anti-Discrimination Agency of Germany, local alli­ances such as Space for Cultures in Neuss or the nati­onwide Action Alliance of Muslim Women in Germany (AmF), Association of Binational Families and Partnerships (IAF) and the Initiative of Black People in Germany (ISD). Likewise, other Asian-German initia­tives fol­lowed the call such as A.Unit / Afro-Asian Art Project (Vienna), SrirachaHotNews (Offenbach am Main) and Diverse Vietnam (Frankfurt am Main).

Although the open letter has been well received and has an empowering effect, I do not want to conceal a cri­tical point. Shortly before the publi­cation of the open letter, I was pain­fully aware of the omission of the racist murders against German-Turkish families, for example in Mölln and Solingen in the 1990s. It pains me that this omission did not occur to me much earlier, during the drafting. Certainly not all forms of racist vio­lence and exclusion can be repre­sented in the letter. The mention of “Hanau” stands as a sym­bolic sign that in this letter these other victims are also thought of even if they are not expli­citly men­tioned. Nevertheless, this is not suf­fi­cient because the imba­lance as well as the ques­tions of poli­tical cen­tering and focus persist. Perhaps this omission was also a sub­con­scious, func­tional ope­ra­tional blindness in order to be able to write this letter at all and in order not to have to deal with the dif­ficult question of whether the open letter is poli­ti­cally entitled to claim or con­tex­tualize people with for example Arab, Indian, Iranian, Kurdish, or Turkish vibes as Asian-Germans. The diffuse, porous and con­tra­dictory line between unin­ten­tional exclusion and unin­ten­tional appro­priation is very small, curr­ently unde­cided at the com­munity level, and only indi­vi­dually nego­tiable. Therefore, it was important for us to ask how the people affected position them­selves when co-signing this letter. On the level of poli­tical repre­sen­tation, I could have asked İbrahim Arslan, who sur­vived the racist arson attack on his family in 1992 in Mölln, whether it made sense for him to mention his grand­mother Bahide Arslan, his sister Yeliz Arslan and his cousin Ayşe Yılmaz by name in this letter.

However, the open letter is ground­breaking for the Asian-German context despite this dif­ficult ambi­guity in several ways: For the first time, a very broad and strong coalition of diverse Asian-German and Asian-Diasporic orga­niza­tions has come tog­ether to publicly demons­trate mutual, trans­na­tional, and inter­com­munal soli­darity against anti-Asian racism. Likewise, the growing support from NGOs of Color and other pro­gressive orga­niza­tions has been impressive. Last but not least, this open letter has encou­raged Asian Germans, Asian dia­sporic, Asian and Asian iden­tified people living in and outside of Germany to raise poli­tical demands. The inter­ge­ne­ra­tional, cross-cultural and socially inclusive com­po­sition of sup­porters from very dif­ferent Asian com­mu­nities is also striking: it ranges from cooks, security pro­fes­sionals and tradesmen to the usual suspects including acti­vists, aca­demics and cul­tural workers. There are veteran and well-known com­munity members but also many new names of Asian stu­dents and in some cases even pupils who can be found in this letter. Equally essential is the fact that people with names from the Arabic, Turkish, South and West Asian lan­guages identify them­selves in this open letter as Asian Germans – for many also for the very first time.

For all these reasons, pointing to the strengths as well as the short­co­mings of this open letter, this joint and equality-based coming to voice is immensely important. It can be assumed that this open letter will not only be a mile­stone in the for­mation and diver­si­fi­cation of the Asian German Movement, but will hop­efully also prove to be a his­to­rical document on the way to a post-migrant and post-colonial Germany.

Link to the Open Letter: www.korientation.de/atlanta-offener-brief/#englishversion

Kien Nghi Ha, pro­mo­vierter Kultur- und Politikwissenschaftler, forscht zu Asian German Studies an der Universität Tübingen. Als Publizist und Kurator arbeitet er auch zu post­ko­lo­nialer Kritik, Rassismus und Migration. Neueste Publikationen sind unter anderem der Sammelband Asiatische Deutsche Extended. Vietnamesische Diaspora and Beyond (VÖ Juni 2021) als erwei­terte Neuauflage sowie das für die Heinrich Böll Stiftung her­aus­ge­gebene Dossier Geschlossene Gesellschaft? Exklusion und ras­sis­tische Diskriminierung an deut­schen Universitäten.

FilmPolitikVerein

Wir stellen die Ergebnisse der vom Bündnis #VielfaltImFilm initi­ierten Online-Umfrage vor, an der über 6.000 Filmschaffende in ihren 440 Berufen teil­nahmen. Damit liegen nun erstmals umfas­sende Daten zu ihren Erfahrungen bzgl. Vielfalt und Diskriminierung vor und hinter der Kamera vor. Die Ergebnisse von Vielfalt im Film deuten darauf hin, dass Diskriminierung die deutsche Filmbranche durch­zieht und die Teilhabe von Filmschaffenden mit unter­schied­lichen Vielfaltsbezügen ein­schränkt. Unsere Ergebnisse gelten als Basis für Handlungsempfehlungen, die die Entwicklung eines inklu­siven und gerechten Arbeitsumfeldes in der Filmbranche vor­an­treiben wollen. 

Weitere Ergebnisse auf https://vielfaltimfilm.de

Initiativgruppe #VielfaltImFilm:
Berlin Asian Film Network
BVR – Bundesverband Regie e.V.
Citizens For Europe
Crew United
Diversity Arts Culture
Hörfilm.info
Filmuniversität Babelsberg - Konrad Wolf
Kinoblindgänger gemein­nützige GmbHkori­en­tation e.V.
Label Noir
Leidmedien.de
Panthertainment
Pro Quote Film
Queer Media Society
Schwarze Filmschaffende Community

Vielen Dank an allen Beteiligten: 

  • Thelma Buabeng, Schauspielerin
  • Kai S. Pieck, Regisseur und Autor
  • Tua El-Fawwal, Schauspielerin
  • Viktoria So Hee Alz, Drehbuchautorin
  • Max Weiland, Geschäftsleitung uns* LGBTQIA+ Talentagentur
  • Tobias Lehmann, Kameramann
  • Manuela Wisbeck, Schauspielerin
  • Chun Mei Tan, Schauspielerin, Agentin und Business Coach
  • Juan Vivanco, Wissenschaftler
  • Jonathan Kwesi Aikins, Schauspieler
  • Judyta Smykowski, Journalistin
  • Dieu Hao Do, Regisseur
  • SHERI HAGEN, Schauspielerin, Regisseurin und Filmproduzentin
  • Jerry Kwarteng, Schauspieler
  • Deniz Yildirim, Wissenschaftlerin
  • Prof. Dr. Skadi Loist, Professor*in für Produktionskulturen

Künstlerische Leitung / Produktion: Séverine Lenglet (Citizens For Europe)
Kamera / Schnitt : Gábor Hollós
Ton /Licht: Bär in Mind
VFX / Colorist: DERAVEN
AVMusik: Erik Siefken
Gebärdesprache-Dolmetschen: Eyk Kauly#
Audiodeskription: Kinoblindgänger gemein­nützige GmbH in Koproduktion mit 48hearts pro­duc­tions
Sprecherin: Susanne Hauf 

Vielen Dank für die Unterstützung:

  • Studio Emanuelf
  • Júlia Erő
  • Zentrum für Kultur und visuelle Kommunikation der Gehörlosen Berlin / Brandenburg e.V.
  • Barbara Fickert (Kinoblindgänger)
  • Jan Meuel (DBSV: Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e. V.)
  • KOPF, HAND und FUSS gGmbH

Förderer:innen:

Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS), Bundesagentur für Arbeit: ZAV – Zentrale Auslands- undFachvermittlung, Bündnis 90/Die Grünen – Landtag Bayern, Constantin Film, FilmFernsehFonds Bayern, HessenFilm und Medien, Kulturwerk Bild-Kunst, MFG Filmförderung Baden-Württemberg, Netflix, Pensionskasse RundfunkUnterstützer:innen: Bundesverband Casting Deutsche Akademie für Fernsehen e.V. Deutsche Filmakademie Erich Pommer Institut Indiefilmtalk Podcast Neue deutsche Medienmacher @Produzentenallianz #Produzentenverband @Spitzenorganisation-der-Filmwirtschaft-e-V-SPIO #themis_vertrauensstelle Verband Deutscher Drehbuchautoren VÖFS – Verband Österreichischer FilmschauspielerInnen

Blog

von Kimiko Suda, Sabrina J. Mayer, Christopher Nguyen 


Antiasiatischer Rassismus exis­tiert nicht erst seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Basierend auf tat­säch­lichen und ima­gi­nierten Besuchen Asiens,[1] haben seit dem 13. Jahrhundert Europäer*innen Narrative kon­struiert und ver­breitet, die bis heute wirk­mächtig sind. In ihnen erscheinen Asiat*innen als „anders“, „exo­tisch“ und „gefährlich“.[2] Auch in Deutschland lässt sich anhand von his­to­ri­schen Beispielen eine klare Kontinuität und Systemimmanenz von anti­asia­ti­schem Rassismus auf­zeigen.[3]

So wurde bei­spiels­weise die Errichtung der deut­schen Kolonie Kiautschou 1897 zeit­ge­nös­sisch mit der angeb­lichen Überlegenheit der Deutschen gegenüber den Chines*innen innerhalb eines ras­sis­ti­schen Systems und dem Ziel der christ­lichen Missionierung und soge­nannten Zivilisierung „im Namen einer höheren Gesittung“ legi­ti­miert.[4] Wenige Jahre später, am 27. Juli 1900, argu­men­tierte Kaiser Wilhelm II. in seiner „Hunnenrede“ zum Abschied deut­scher Marinesoldaten, die zur Bekämpfung des „Boxeraufstands“ (1899–1901) nach China geschickt wurden, dass die Chines*innen mit ihrem Akt des Widerstands gegen die Kolonialmächte ihr Recht auf Leben ver­wirkt hätten. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialist*innen waren auch die damals in Deutschland lebenden Chines*innen unmit­telbar von der NS-Rassenpolitik betroffen: Sie wurden aus­ge­wiesen oder in Konzentrations- und Zwangsarbeiterlager ver­schleppt und dort ermordet.[5]

Als schwer­wie­gendste Fälle anti­asia­ti­scher Gewalt nach 1945 sind die Pogrome in Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 in das kol­lektive Gedächtnis asia­ti­scher Deutscher ein­ge­gangen. Wohngebäude, in denen eine größere Anzahl von Vietnames*innen lebte, wurden unter den Augen applau­die­render Zuschauer*innen von gewalt­tä­tigen Rechtsradikalen ange­griffen. Die Polizei wartete in beiden Fällen tagelang, bis sie gering­fügig ein­griff. Die ver­ant­wort­lichen Politiker*innen kapi­tu­lierten vor der rechten Gewalt und ließen in beiden Fällen die Angegriffenen eva­ku­ieren, statt für die Verhaftung der Angreifer*innen zu sorgen. Die Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen sind dabei nicht nur als eine Folge der Vereinigungspolitik ein­zu­ordnen, sondern als Ausdruck einer kon­ti­nu­ier­lichen Existenz von Rassismus in der deut­schen Bevölkerung.[6]

Eine Anerkennung dieser spe­zi­fi­schen Form struk­tu­reller Diskriminierung erfolgte jedoch erst in jüngster Zeit. Beispielsweise sind die ras­sis­tisch moti­vierten Morde an Nguyen Ngọc Chau und Do Anh Lan, die am 20. August 1980 in Hamburg bei einem von Rechtsterroristen ver­übten Brandanschlag starben, bis heute kaum bekannt.[7] Während die Pogrome in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen noch als situa­ti­ons­be­zogene „Fremdenfeindlichkeit“ gegenüber „Ausländer*innen“ galten, wird im Kontext der Corona-Pandemie, die weltweit mit stei­gender ras­sis­ti­scher Diskriminierung und Übergriffen auf asia­tisch gelesene Menschen ein­herging, nun ver­mehrt über anti­asia­ti­schen Rassismus in Deutschland gesprochen.

Asiatisch gelesene Menschen in Deutschland sind in wider­sprüch­licher Weise sowohl von posi­tivem als auch nega­tivem Rassismus betroffen. Einerseits werden sie vielfach als „Vorzeigemigrant*innen“ beschrieben und gegen andere (post)migrantische Gruppen aus­ge­spielt; ande­rer­seits werden sie als homogene Masse dar­ge­stellt, von der eine Gefahr für die Weiße[8] Mehrheitsgesellschaft ausgehe. Antiasiatischer Rassismus in Deutschland umfasst unter­schied­liche Formen von Gewalt. Diese reichen von ver­balen Mikroaggressionen über struk­tu­relle Diskriminierung bis hin zu kör­per­lichen Angriffen und Morden. In Kitas und Schulen werden Kinder in Lehrbüchern und bei Festen mit ras­si­fi­zierten Missrepräsentationen von „asia­ti­schen Körpern“ und „asia­ti­scher Kultur“ kon­fron­tiert.[9] Dabei unter­scheiden sich die in Populärkultur und medialer Berichterstattung weit ver­brei­teten ras­si­fi­zierten Zuschreibungen auch nach Geschlecht: So werden asia­tisch gelesene Frauen sexua­li­siert, exo­ti­siert und infan­ti­li­siert, Männer dagegen desexua­li­siert und femi­ni­siert.[10]

Diese bereits bestehenden Muster ver­stärkten sich im Kontext der Corona-Pandemie. So berichten asia­tisch gelesene Menschen ver­mehrt von kör­per­lichen Übergriffen im öffent­lichen Raum und fühlen sich phy­sisch und sozial gemieden.[11] Um diese und ähn­liche Entwicklungen wis­sen­schaftlich zu erfassen, sammelt das Kooperationsprojekt „Soziale Kohäsion in Krisenzeiten. Die Corona-Pandemie und anti-asiatischer Rassismus in Deutschland“ seit August 2020 Daten über die gesell­schaft­liche Wahrnehmung von asia­tisch gele­senen Menschen und die Auswirkungen der Pandemie auf diese Wahrnehmungen. Unser Beitrag nutzt die Ergebnisse einer dabei Ende August 2020 umge­setzten Umfrage, um anti­asia­ti­schen Rassismus in Deutschland anhand von aktu­ellen Beispielen zu skiz­zieren, diese mit his­to­ri­schen Entwicklungen zu ver­knüpfen sowie Leerstellen hin­sichtlich der Prävention, Dokumentation und Bekämpfung von anti­asia­ti­schem Rassismus in Deutschland auf­zu­zeigen.[12]

Geschichten asiatischer Migration

Asien ist der größte und ein­woh­ner­stärkste Erdteil, der durch eine Vielzahl von Migrationsströmen geprägt ist. Daher stellt sich die Frage, von wem die Rede ist, wenn wir über „Asiat*innen“ sprechen. Menschen aus Westasien, etwa aus Iran, werden in Deutschland eher als mus­li­misch denn als asia­tisch wahr­ge­nommen, Menschen aus Zentralasien eher mit der ehe­ma­ligen Sowjetunion ver­knüpft. Hinsichtlich des anti­asia­ti­schen Rassismus unter­scheiden sich die Stereotypen und Vorurteile wie­derum zwi­schen Südasien (zum Beispiel Indien), Südostasien (zum Beispiel Indonesien) und Ostasien (zum Beispiel China). Antiasiatischer Rassismus ist dabei kon­text­ab­hängig – er unter­scheidet sich etwa in Großbritannien und Deutschland – und his­to­risch gewachsen. Vielfach wird er über ein­zelne, medial prä­sente Herkunftsländer ver­mittelt. Auf die Frage, welche Gruppen man mit Personen aus Asien ver­binde, ant­wor­teten in unserer Befragung 75 Prozent der Befragten mit Personen aus China, 46 Prozent mit Personen aus Japan und 13 bis 15 Prozent jeweils mit Personen aus Thailand, Südkorea, Indien und Vietnam. Westasiatische Länder wie Iran und Afghanistan wurden von weniger als zwei Prozent genannt und nur gering­fügig mit Asien assoziiert.

Die poten­ziell von anti­asia­ti­schem Rassismus betroffene soziale Gruppe in Deutschland besteht aus unter­schied­lichen Generationen und ist hete­rogen in Hinsicht auf sozio­öko­no­mische Hintergründe und Migrationsgeschichten. Die beiden Gruppen, die am ehesten mit Ländern aus Asien ver­bunden wurden, sind dabei nicht die zah­len­mäßig stärksten Gruppen – Personen aus Japan sind zah­len­mäßig deutlich weniger ver­treten als Personen aus Vietnam (Tabelle).

Tabelle: Anzahl von Personen asia­ti­scher Herkunft und ihrer Nachkommen in Deutschland. Die Tabelle umfasst alle Gruppen aus Süd‑, Südost- und Ostasien, die Separat aus­ge­wiesen sind und mehr als 30.000 Personen umfassen. Die Zahlen wurden auf 1.000 gerundet. (© Mikrozensus 2016)

Ein wich­tiger Teil asia­ti­scher Migrationsgeschichten ist die staatlich orga­ni­sierte Arbeitsmigration in die Bundesrepublik seit Ende der 1950er Jahre. Neben einigen Hundert japa­ni­schen und 8.000 korea­ni­schen Bergarbeitern immi­grierten ab 1966 auch mehr als 10.000 korea­nische Krankenschwestern. Weitere Krankenschwestern aus Indien, Indonesien und den Philippinen folgten.[13] Als sich nach dem Anwerbestopp 1973 die Rücksendeabsicht der Bundesregierung abzeichnete, erkämpfte die Koreanische Frauengruppe in Deutschland mit einer Unterschriftenaktion 1978 erfolg­reich ihr Bleiberecht.[14] Seit dem 1. März 2020 werden im Rahmen des neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetzes medi­zi­nische Pflegekräfte aus den Philippinen und Vietnam ange­worben, erneut ohne die recht­liche Perspektive auf dau­er­hafte Niederlassung. Die Geschichte der Diskriminierung asia­ti­scher Arbeitsmigrant*innen droht, sich zu wiederholen.

Zusätzlich migrierten vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs und der viet­na­me­si­schen Wiedervereinigung ab 1975 über 40.000 Geflüchtete aus Vietnam in die Bundesrepublik. Tausende waren mit Booten über das Südchinesische Meer geflüchtet und wurden daher als „Boat People“ bezeichnet. Als Kontingentflüchtlinge erhielten sie und nach­ge­zogene Familienmitglieder einen unbe­fris­teten Aufenthaltstitel.[15]

Ein wei­terer Teil kol­lek­tiver viet­na­me­si­scher Migrationsgeschichte ist die von der DDR staatlich orga­ni­sierte Arbeitsmigration ab 1980. Die Vertragsarbeiter*innen, dar­unter ein Drittel Frauen, waren im Maschinenbau sowie in der Leicht- und Schwerindustrie beschäftigt. Sie sollten, ähnlich wie die Arbeitsmigrant*innen in der Bundesrepublik, für eine fest­ge­legte Zeit dort arbeiten und sich nicht dau­erhaft nie­der­lassen. 1989 lebten und arbei­teten fast 60.000 viet­na­me­sische Vertragsarbeiter*innen in der DDR. Bilaterale Abkommen wurden in gerin­gerem Umfang auch 1982 mit der Mongolei sowie 1986 mit China und Nordkorea abge­schlossen.[16] Nach der Wende blieben knapp ein Drittel der viet­na­me­si­schen Vertragsarbeiter*innen in Deutschland, viele von ihnen kämpften jah­relang um Aufenthaltsgenehmigungen und ihre Existenzsicherung, bis 1997 mit der zweiten Bleiberechtsregelung im deut­schen Ausländergesetz eine recht­liche Grundlage dafür geschaffen wurde.[17]

Die Geschichte der chi­ne­si­schen Communities in Deutschland ist ins­be­sondere für die Metropolen Hamburg und Berlin seit dem Ende des 19. Jahrhunderts doku­men­tiert. Um 1900 arbei­teten mehrere Tausend chi­ne­sische Heizer und Seeleute auf deut­schen Dampfschiffen und ließen sich ab 1919 in Hamburg nieder, eröff­neten Geschäfte, Restaurants und grün­deten Familien. In den 1920er und 1930er Jahren stu­dierten pro­mi­nente chi­ne­sische Intellektuelle wie zum Beispiel der spätere Premierminister Zhou Enlai in Berlin.[18] Nach dem Beginn der Reform- und Öffnungspolitik in der Volksrepublik China unter Deng Xiaoping kamen ab 1980 immer mehr chi­ne­sische Studierende nach Berlin, gegen­wärtig stellen Chines*innen an vielen deut­schen Universitäten die größte Gruppe an aus­län­di­schen Studierenden.[19] Zudem leben Kulturschaffende, Wissenschaftler*innen und Geschäftsleute aus der Volksrepublik, Taiwan und Hongkong ins­be­sondere in Berlin und haben dort Strukturen zur kul­tu­rellen Selbstrepräsentation wie das „Times Art Center“ eta­bliert, die für die Etablierung von Gegenperspektiven zu ras­sis­ti­schen Narrativen not­wendig sind.

Antiasiatischer Rassismus und Covid-19

Die Verstärkung von anti­asia­ti­schem Rassismus im Kontext der Corona-Pandemie lässt sich vor dem Hintergrund (post)kolonialer Narrative zu „Asien“ his­to­risch ein­ordnen. Seit dem 19. Jahrhundert wird die „Gelbe Gefahr“ mit der Entstehung und Verbreitung von Epidemien wie der Pest, in der jün­geren Vergangenheit mit Infektionskrankheiten wie Sars (severe acute respi­ratory syn­drome) ver­knüpft.[20] Das biologisch-medizinische Phänomen einer Pandemie wird ras­si­fi­ziert und kul­tu­ra­li­siert; Ess‑, Wohn- und Hygienegewohnheiten werden als Teil einer ima­gi­nierten „asia­ti­schen Kultur“ für die Entstehung und Verbreitung von Pandemien ver­ant­wortlich gemacht. Der his­to­rische und der aktuelle Diskurs unter­scheiden sich jedoch in einem Aspekt: Während China früher als „tra­di­tionell“, „unzi­vi­li­siert“ und „unter­ent­wi­ckelt“ ein­ge­ordnet wurde, wird das Land inzwi­schen als eine für Europa öko­no­misch, geo­po­li­tisch und tech­nisch gefähr­liche Konkurrenz bewertet.[21]

Wenn also der „Spiegel“ seine Ausgabe zur Corona-Pandemie am 1. Februar 2020 mit dem Schriftzug „Made in China. Wenn die Globalisierung zur töd­lichen Gefahr wird“ in gelber Farbe betitelt, drängen sich Vergleiche zu kolo­nialen Narrativen unmit­telbar auf. Ähnliche Zuschreibungen erfolgten auch in anderen deutsch­spra­chigen Medienbeiträgen zu Covid-19 implizit oder explizit.[22] Auf der Straße und im Internet wird asia­tisch gele­senen Menschen zudem will­kürlich ein „Chinesischsein“ zuge­schrieben, um sie auf eine ver­meintlich nied­rigere soziale Position zu ver­weisen bezie­hungs­weise ihnen eine Existenz in Deutschland abzu­sprechen. Auch die Erinnerungstafel für chi­ne­sische NS-Opfer in der Hamburger Schmuckstraße, in deren Nachbarschaft sich in den 1920er und 1930er Jahren das „Chinesenviertel“ Hamburgs befand, wurde nach dem Beginn der Corona-Pandemie von Unbekannten stark beschädigt.[23] Als Reaktion auf diese anti­asia­ti­schen Narrative und Übergriffe bildete sich aber auch medialer Widerstand. So ging bei­spiels­weise im Mai 2020 die von asia­tisch gele­senen Menschen initi­ierte inter­aktive, digitale Plattform „Ich bin kein Virus“ online.[24]

Die seit dem Beginn der Pandemie von asia­tisch gele­senen Menschen erlebten Ausgrenzungen sind keine Einzelfälle. So ist es in Anbetracht der stark auf China fokus­sierten medialen Diskussion nicht über­ra­schend, dass etwa 29 Prozent der Befragten die Verantwortlichkeit für die Corona-Pandemie zumindest teil­weise in Asien – und dort ins­be­sondere in China – sehen. Diese Einschätzung kann nicht ohne weitere Informationen als anti­asia­ti­scher Rassismus ein­ge­stuft werden, weist jedoch auf eine deut­liche Verknüpfung der Pandemie mit Asien hin. Eine expli­zitere Verbindung zwi­schen nega­tiven Stereotypen und zuge­schrie­bener Verantwortlichkeit zeigt sich in der Annahme, dass asia­tische Essgewohnheiten, etwa der ver­mutete Konsum von Fledermäusen, und man­gelnde Hygienebedingungen, zum Beispiel durch soge­nannte wet markets, auf denen Obst und Gemüse, frisch her­ge­stellte Lebensmittel wie Nudeln, Sojaprodukte und Brotfladen, Fisch und Fleisch, zum Teil auch lebendes Geflügel und Seetiere ver­kauft werden, zum Ausbruch der Pandemie geführt hätten. Diese Wahrnehmung haben immerhin zehn Prozent aller Befragten.

In unserer Umfrage zeigte sich zudem, dass asia­tisch gelesene Menschen (wei­terhin) oft als „Vorzeigemigrant*innen“ wahr­ge­nommen werden. Während wir sub­stan­zielle Differenzen in der Wahrnehmung von mus­li­mi­schen Menschen und Deutschen ohne Migrationshintergrund finden, gibt es grund­sätzlich keinen sta­tis­tisch sicheren Unterschied zwi­schen der Beurteilung von asia­tisch gele­senen Menschen und Deutschen ohne Migrationshintergrund. Durch die Pandemie scheint sich dieses Verhältnis zu ändern. So zeigen unsere Ergebnisse, dass Menschen, die die Verantwortung für die Pandemie in Asien ver­orten, asia­tisch gelesene Menschen auch innerhalb Deutschlands grund­sätzlich nega­tiver wahr­nehmen. Obwohl dabei keine klare kausale Abfolge zwi­schen der Zuschreibung der Verantwortlichkeit und nega­tiven Wahrnehmungen getestet werden konnte, legen die Ergebnisse nahe, dass der Kontext der Pandemie anti­asia­ti­schen Rassismus akti­viert oder zumindest sichtbar(er) gemacht hat.

Neben Veränderungen der all­ge­meinen Wahrnehmung von asia­tisch gele­senen Menschen inter­es­sierte uns auch, inwiefern die Corona-Pandemie den all­täg­lichen Umgang mit­ein­ander ver­ändert hat. Deshalb wurden auch Alltagssituationen ana­ly­siert, etwa die Platzwahl in öffent­lichen Verkehrsmitteln. Dabei wurden die Befragten mit der Situation kon­fron­tiert, zwi­schen einem Platz neben einem asia­tisch und einem als der „Normalbevölkerung“ ange­hörig gele­senen Menschen aus­wählen zu können.

Auch hier zeigte sich, dass die Corona-Pandemie das Verhalten der Menschen beein­flusst. Konfrontiert mit der Alltagssituation vor der Pandemie, wählten 51 Prozent aller Befragten den „asia­ti­schen“ Sitznachbarn. Diese Auswahl lässt sich von einer zufäl­ligen Entscheidung sta­tis­tisch nicht unter­scheiden, sodass – im Gegensatz zur Wahl anderer Sitznachbarn mit Migrationshintergrund[25] – keine klaren Ausgrenzungsmuster iden­ti­fi­ziert werden können. Anders verhält es sich unter Corona-Bedingungen. Waren Menschen mit Masken abge­bildet, wählten nur noch 46 Prozent aller Befragten den Sitzplatz neben den asia­tisch gele­senen Menschen, sodass ein Vermeidungsverhalten iden­ti­fi­ziert werden kann. Dieses Verhalten war besonders unter Menschen, die der AfD nahe­stehen, präsent. Sie bevor­zugten unter Corona-Bedingungen zu fast 70 Prozent einen Weißen Sitznachbarn, während im Szenario ohne Maske dieser Anteil bei 53 Prozent liegt.

Die Ergebnisse dieser Umfrage zeigen, wie wider­sprüchlich, hete­rogen, aber auch fragil und kon­text­ab­hängig die Wahrnehmung asia­tisch gele­sener Menschen in der deut­schen Gesellschaft ist. Im Vergleich zu anderen (post)migrantischen Gruppen erleben sie weniger häufig direkte Ablehnung und Ausgrenzung und werden von der „Normalbevölkerung“ posi­tiver wahr­ge­nommen. Die Ergebnisse zeigen aber auch, wie unsicher dieser Zustand ist. Bestehende Vorurteile und Ablehnungen können in realen oder ima­gi­nären Krisensituationen schnell akti­viert werden und zu kleinen und großen Ausprägungen von anti­asia­ti­schem Rassismus führen.

Ausblick

Die struk­tu­relle Basis von Rassismus in der deut­schen Gesellschaft lässt ver­muten, dass auch zukünftig mit Ausbrüchen kol­lek­tiver anti­asia­ti­scher ras­sis­ti­scher Gewalt gerechnet werden muss.

Das Fortwähren von ras­si­fi­zierten Zuschreibungen und deren Wirkungsweisen lässt sich unter anderem auf den Mangel an inhalt­licher und per­so­neller Diversität in Institutionen zurück­führen. Dieser besteht ins­be­sondere in Hinsicht auf die Repräsentation von asia­ti­scher Migration in der Wissenschaft, in Bildungsinstitutionen und ‑for­maten, in den Medien und in der Kultur. Ohne die Schließung dieser Leerstellen lässt sich auch keine Sensibilisierung der Öffentlichkeit gegenüber anti­asia­ti­schem Rassismus nach­haltig gestalten, da sich kein Grundwissen eta­blieren kann. Zudem wurde die deutsche Kolonialpolitik in China zwar zum Teil wis­sen­schaftlich unter­sucht,[26] jedoch poli­tisch nicht aufgearbeitet.

Knapp zwei Wochen nach den ras­sis­tisch moti­vierten Morden in Hanau am 19. Februar 2020 wurde beim elften Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt die Einrichtung eines Kabinettsausschusses gegen Rechtsextremismus und Rassismus beschlossen. Die Interessen der asiatisch-deutschen Communities sind durch den Verein „Korientation“ in der Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen in diesem Ausschuss ver­treten. Diese Vertretung ist ein erster Schritt einer Repräsentation auf der bun­des­po­li­ti­schen Ebene.

Knapp eine Million asia­tische Deutsche und Asiat*innen leben in Deutschland und sind poten­ziell von anti­asia­ti­schem Rassismus betroffen. Antiasiatischer Rassismus ist dabei nicht nur für asiatisch-gelesene Menschen relevant, sondern Teil und Symptom eines gesell­schaft­lichen, wirt­schaft­lichen, poli­ti­schen und kul­tu­rellen Systems. Dieses wird von hier lebenden Menschen vor dem Hintergrund eines spe­zi­fi­schen his­to­ri­schen Kontextes repro­du­ziert. Die Verstärkung der Diskriminierung von asia­tisch gele­senen Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie macht eine öffent­liche Positionierung von poli­ti­schen Handlungsträger*innen und letztlich jeder Person, die Zeug*in einer Diskriminierung wird, not­wendig. Weitere Studien und eine sys­te­ma­tische Dokumentation von anti­asia­ti­schem Rassismus sind zudem unab­dingbar, um diesen wir­kungs­voller bekämpfen zu können.

Wir danken Noa K. Ha und Jonas Köhler für die hilf­reichen Anregungen und Kommentare zu diesem Beitrag.

Fußnoten

1 Die Begriffe „Asien“ und „asia­tisch“ werden sowohl als Kenntlichmachung einer Imagination Europas bzw. als Fremdzuschreibung durch Europäer*innen und andere Personen als auch für Menschen genutzt, die sich selbst als „asia­tisch“, „asia­tische Deutsche“ oder „asiatisch-diasporisch“ bezeichnen.

2 Vgl. Michael Keevak, Becoming Yellow. A Short History of Racial Thinking, Princeton–Oxfordshire 2011.

3 Rassismus wird in diesem Beitrag nicht als per­sön­liche oder poli­tische Einstellung, sondern als „insti­tu­tio­na­li­siertes System, in dem soziale, wirt­schaft­liche, poli­tische und kul­tu­relle Beziehungen für weißen Alleinherrschaftserhalt wirken“, ver­standen. Noah Sow, Rassismus, in: Susan Arndt/Nadja Ofuatey-Alazard (Hrsg.), (K)Erben des Kolonialismus im Wissensarchiv deutsche Sprache. Ein kri­ti­sches Nachschlagewerk, Münster 2019, S. 37.

4 Zit. nach Mechthild Leutner/Harald Bräuner, „Im Namen einer höheren Gesittung“. Die Kolonialperiode, 1897–1914, in: Mechthild Leutner/Dagmar Yü-Dembski (Hrsg.), Exotik und Wirklichkeit. China in Reisebeschreibungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1990, S. 41–52.

5 Vgl. Kien Nghi Ha, Chinesische Präsenzen in Berlin und Hamburg bis 1945, in: ders. (Hrsg.), Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond, Berlin–Hamburg 2012, S. 280–287; Dagmar Yü-Dembski, Chinesenverfolgung im Nationalsozialismus. Ein wei­teres Kapitel ver­drängter Geschichte, in: Bürgerrechte & Polizei 3/1997, S. 70–76.

6 Vgl. Noa K. Ha, Vietdeutschland und die Realität der Migration im ver­einten Deutschland, in: APuZ 28–29/2020, S. 30–34; Dan Thy Nguyen, Rechte Gewalt, die DDR und die Wiedervereinigung, in: Bengü Kocatürk-Schuster et al. (Hrsg.), Unsichtbar. Vietnamesisch-Deutsche Wirklichkeiten, Köln 2017, S. 6–23.

7 Vgl. Gedenken an ersten offi­zi­ellen ras­sis­ti­schen Mord nach 1945, 24.8.2020, http://www.migazin.de/2020/08/24/vor-40-jahren-gedenken-an-ersten-offiziellen-rassistischen-mord-nach-1945«. Siehe auch die Initiative für ein Gedenken an Nguyen Ngọc Chau und Do Anh Lan, https://inihalskestrasse.blackblogs.org/author/inihalskestrasse«.

8 „Weiß“ wird hier groß­ge­schrieben, um auf die Konstruiertheit von Ethnizität zu verweisen.

9 Vgl. „Kostüme sind nicht unschuldig“. Interview mit Noa K. Ha, 8.2.2018, http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018–02/noa-k-ha-karneval-kolonialismus-interview«.

10 Zum aktu­ellen Kontext vgl. Sumi K. Cho, Converging Stereotypes in Racialized Sexual Harassment. Where the Model Minority Meets Suzie Wong, in: The Journal of Gender, Race and Justice 1/1997, S. 178–211. Zu his­to­ri­schen Entwicklungen vgl. Mechthild Leutner, „Schlitzäugige Schöne“ und „gehorsame Dienerin des Mannes“. Deutsche Bilder von chi­ne­si­schen Frauen in der Kolonialperiode, in: dies./Marianne Bechhaus-Gerst (Hrsg.), Frauen in den deut­schen Kolonien, Berlin 2009, S. 194–204.

11 Vgl. Daniel Leber, „Er sagte, man müsse mich mit Sagrotan ein­sprühen“, 18.4.2020, http://www.tagesspiegel.de/25750740.html«.

12 Wir bedanken uns bei Jonas Köhler für die tat­kräftige Hilfe bei der Kodierung.

13 Vgl. Urmila Goel, Wer sorgt für wen auf welche Weise? Migration von Krankenschwestern aus Indien in die Bundesrepublik Deutschland, in: Beate Binder et al. (Hrsg.), Care: Praktiken und Politiken der Fürsorge. Ethnographische und geschlech­ter­theo­re­tische Perspektiven, Opladen 2019, S. 97–109; Florian Pölking, Schlaglichter auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ehe­ma­liger korea­ni­scher Bergarbeiter und Krankenschwestern in Deutschland, in: Yong-Seoun Chang-Gusko/Nataly Jung-Hwa Han/Arnd Kolb (Hrsg.), Unbekannte Vielfalt. Einblicke in die korea­nische Migrationsgeschichte in Deutschland, Köln 2014, S. 42–69; You Jae Lee/Sun-ju Choi, Umgekehrte Entwicklungshilfe. Die korea­nische Arbeitsmigration in Deutschland, in: Kölnischer Kunstverein et al. (Hrsg.), Projekt Migration, Köln 2005, S. 735–742.

14 Vgl. Kook-Nam Cho-Ruwwe, 30 Jahre der korea­ni­schen Frauengruppe in Deutschland, o.D., https://koreanische-frauengruppe.tistory.com/266?category=615060«.

15 Vgl. Phi Hong Su/Christina Sanko, Vietnamesische Migration nach Westdeutschland. Ein his­to­ri­scher Zugang, in: Kocatürk-Schuster et al. (Anm. 6), S. 6–23.

16 Vgl. Mike Dennis, Vietnamesische Migration in den 1980er Jahren: Arbeiten in einem kom­mu­nis­ti­schen Paradies, in: Kocatürk-Schuster et al. (Anm. 6), S. 78–97; Ann-Judith Rabenschlag, Arbeiten im Bruderland. Arbeitsmigranten in der DDR und ihr Zusammenleben mit der deut­schen Bevölkerung, 15.9.2016, http://www.bpb.de/233678«.

17 Vgl. Karin Weiss, Vietnamesische „Vertragsarbeiter*innen“ der DDR seit der deut­schen Wiedervereinigung, in: Kocatürk-Schuster et al. (Anm. 6), S. 111–125.

18 Vgl. Kien Nghi Ha, Chinesische Präsenzen in Berlin und Hamburg bis 1945, in: ders. (Hrsg.), Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond, Berlin–Hamburg 2012, S. 280–287.

19 Im Wintersemester 2018/2019 gab es an Hochschulen in Deutschland 42676 Studierende aus China. Vgl. Statista, Anzahl der aus­län­di­schen Studierenden an Hochschulen in Deutschland im Wintersemester 201819 nach Herkunftsländern, Oktober 2019, https://de.statista.com/statistik/daten/studie/301225«.

20 Vgl. Keevak (Anm. 2).

21 Vgl. Christos Lynteris, Yellow Peril Epidemics: The Political Ontology of Degeneration and Emergence, in: Franck Billé/Sören Urbansky (Hrsg.), Yellow Perils. China Narratives in the Contemporary World, Honolulu 2018, S. 35–59

22 Für einen Überblick über anti­asia­tische Medienberichte siehe http://www.korientation.de/corona-rassismus-medien«.

23 Vgl. Rosa Fava, Gedenktafel für chi­ne­sische NS-Opfer in Hamburg ange­griffen und beschmutzt, 20.4.2020, http://www.belltower.news/anti-asiatischer-rassismus-gedenktafel-fuer-chinesische-ns-opfer-in-hamburg-angegriffen-und-beschmutzt-98467«.

24 Siehe http://www.ichbinkeinvirus.org«.

25 So würden z.B. nur 44 Prozent aller Befragten einen Schwarzen statt einen Weißen Sitznachbarn aus­wählen. „Schwarz“ wird hier groß­ge­schrieben, um auf die Selbstbezeichnung der Schwarzen Menschen in Deutschland und, ebenso wie beim Wort „Weiß“, auf die Konstruiertheit von Ethnizität zu verweisen.

26 Für einen Überblick vgl. Mechthild Leutner, Kiautschou: Deutsche „Musterkolonie“ in China?, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hrsg.), „… Macht und Anteil an der Weltherrschaft“. Berlin und der deutsche Kolonialismus, Münster 2005, S. 203–212.


Autoren/-innen: Kimiko Suda, Sabrina J. Mayer, Christoph Nguyen für: Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de, APuZ Heft 42–44, 2020 vom 08.10.2020. Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE ver­öf­fent­licht. Zweitveröffentlichung auf korientation.de.

BlogPolitik

Gedenkrede zum 40. Jahrestag des rassistischen Brandanschlags an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, Hamburg-Moorfleet, Halskestr. 72, am 22. August 2020 von Kien Nghi Ha

Sehr geehrte Damen und Herren, hallo liebe Freund*innen und Mitstreiter*innen,
Kính thưa các Quý ông và Quý bà, xin chào những người bạn và đồng nghiệp thân mến,

ich bin heute hierher gekommen, um Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu zu gedenken. Sie wurden an diesem Ort vor 40 Jahren durch orga­ni­sierte deutsche Rechtsextremist*innen ermordet. Es ist mir ein wich­tiges per­sön­liches wie poli­ti­sches Anliegen, meinen Respekt wie meine Trauer nicht zuletzt gegenüber den über­le­benden Angehörigen der Getöteten aus­zu­drücken. Obwohl der Anlass bedrü­ckend ist, ermutigt es mich sehr, dass die Mutter von Đỗ Anh Lân die 2014 ins Leben gerufene Gedenkinitiative* aus­drücklich unter­stützt. Ich möchte ihr sagen: Bà ơi, bà không chiến đấu một mình đâu. Oma, ihr steht mit Eurem Kampf nicht alleine da. Genauso wie sie wollen auch viele andere Menschen aus der vietnamesisch-deutschen Community in und außerhalb Hamburgs einen wür­digen öffent­lichen Gedenkort für die hier Ermordeten schaffen. 

Aber weder das Gedenken noch der Kampf für die Errichtung eines anti­ras­sis­ti­schen Lern- und Erinnerungsortes ist aus­schließlich Sache der betrof­fenen Familie oder der soge­nannten eth­ni­schen Gemeinschaft, sondern eine gesamt­ge­sell­schaft­liche Verantwortung. Außerdem haben viele von uns am eigenen Leib erfahren, dass die ras­sis­tische Gewalt nicht wahllos, sondern ziel­ge­richtet und community-übergreifend mus­li­misch, Schwarz, jüdisch, Rom*nja und Sinte*zza, Latinx oder Asiatisch[1] mar­kierte Menschen trifft. Daher ist es nicht nur wün­schenswert, sondern absolut not­wendig, unsere uns eigene mensch­liche, emotional-kulturelle Solidarität groß­zügig zu leben und poli­ti­schen Widerstand grenz­über­schreitend zu organisieren.

Tödliche Spuren in der langen Geschichte des deutschen Rassismus

Ich kannte Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân nicht per­sönlich, aber ihre Geschichte ist mir nicht fremd. Wären wir uns begegnet, hätte ich sie mit Chu Châu und Anh Lân, also Onkel Châu und Bruder Lân ange­sprochen, denn ich war damals erst acht Jahre alt. Onkel Châu war Lehrer in Vietnam und wurde 1958 in Saigon geboren. Bruder Lân kam 1962 eben­falls in Saigon zur Welt und war zum Zeitpunkt seiner Flucht noch Schüler. Obwohl sie aus Südvietnam stammten und ich zufällig in der nord­viet­na­me­si­schen Stadt Hanoi geboren wurde, kann ich mich mit ihnen iden­ti­fi­zieren, da uns auf unter­schied­lichen Ebenen eine per­sön­liche Geschichte ver­bindet. Wir über­lebten zufällig den Geschwisterkrieg, der im Kern ein impe­ria­lis­ti­scher US-Krieg in Vietnam war, und kamen 1979 bzw. 1980 als erste soge­nannte Boat People in West-Deutschland an. Es war ebenso reiner Zufall, dass sie in Hamburg und ich mit meiner Familie in West-Berlin unter­ge­bracht wurden. 

Der heim­tü­ckische Brandanschlag, der genau an diesem Ort in der Nacht zum 22. August 1980 stattfand, war dagegen sehr ziel­ge­richtet und nicht zufällig, als er die beiden im Schlaf über­raschte. Dieses Ereignis hatte zual­lererst für die Betroffenen die bru­talst mög­liche Folge; es ver­nichtete das Leben von zwei jungen Männern: Bruder Lân starb bereits mit 18 Jahren und Onkel Châu wurde auch nur 22 Jahre alt. Leider ist in der Öffentlichkeit kaum mehr als das eben Gesagte über sie bekannt. Wir wissen nicht, welche Wünsche und Träume sie für sich hatten oder wie sie sich selbst und ihre Familien wahr­nahmen. Wir wissen aber, dass ihre Ermordung nicht zu begreifen ist, wenn wir sie nur als tra­gische indi­vi­duelle Schicksalsschläge deuten. Vergessen wir nicht, dass seit dem Ende der 1960er Jahre mit dem Attentat auf Rudi Dutschke eine anstei­gende rechts­extreme Gewaltwelle durch die BRD rollte. Dabei kamen nicht nur nackte kör­per­liche Gewalt und ein­fache Waffen zum Einsatz. Vielmehr ver­übten orga­ni­sierte Neonazis in diversen soge­nannten Werwolf‑, Kampf- und Wehrsportgruppen zunehmend Brand- und Sprengstoffanschläge. Die Tötung von Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu durch die Deutschen Aktionsgruppen leitete 1980 eine dichte Serie rechts­extremer und ras­sis­ti­scher Terrortaten ein. So ver­übten Mitglieder der Wehrsportgruppe Hoffmann noch im selben Jahr den Bombenanschlag auf das Münchener Oktoberfest, der 13 Menschenleben kostete, und erschossen den jüdi­schen Verleger Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in Erlangen. Wie etwa in Mölln, Solingen und Lübeck in den 1990ern Jahren, wie die unzäh­ligen NSU-Morde eine Dekade später, aber auch der dies­jährige Massenmord in Hanau wie­der­kehrend bestä­tigen, gehört der rechts­extre­mis­tische Terror gegen People of Color und Migrierte seit vielen Jahrzehnten zum ras­sis­ti­schen Normalzustand der deut­schen Gesellschaft. Und heute vor genau 28 Jahren begann auch das größte ras­sis­tische Pogrom seit 1945 in Rostock-Lichtenhagen, das vier Tage andauerte und stun­denlang live im öffentlich-rechtlichen Fernsehprogramm über­tragen wurde.

In diesem his­to­ri­schen Zusammenhang nimmt die Ermordung von Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân einen beson­deren Platz ein: Sie sind in West-Deutschland die ersten poli­zeilich doku­men­tierten und gerichtlich nach­ge­wie­senen ras­sis­ti­schen Mordopfer seit 1945. Realistischerweise ist leider davon aus­zu­gehen, dass vor­an­ge­gangene ras­sis­tische Morde und Gewalttaten auf­grund der Weißen Ignoranz und der ras­sis­ti­schen Struktur der mehr­heits­deut­schen Institutionen nicht auf­ge­deckt und ent­spre­chende Verdachtsmomente nicht erkannt oder nach­ge­gangen wurden. So sind erst in den letzten Jahren Hinweise auf­ge­taucht, dass die kuba­ni­schen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Andrés Paret am 12. August 1979 von einem ras­sis­ti­schen Mob durch das sächsisch-anhaltinische Merseburg getrieben wurden und bei ihrem Fluchtversuch in der Saale ertranken.

Die Morde in der Halskestrasse stellen aber auch eine poli­tische Zäsur für die viet­na­me­sische Diaspora in Deutschland dar. Wer bis dahin glaubte, von der Weißen Mehrheitsgesellschaft als hart arbei­tende Asiat*innen mit ver­meintlich preu­ßi­schen Tugenden aner­kannt zu sein oder im Kalten Krieg dachte, als sym­pa­thische Opfer des Kommunismus respek­tiert zu werden, wurde in seiner trü­ge­ri­schen Komfortzone mit einer anderen Realität kon­fron­tiert. So werden Nguyễn Văn Tú 1992 in Berlin-Marzahn, Phan Văn Toàn 1997 im bran­den­bur­gi­schen Fredersdorf, Nguyễn Tấn Dũng 2008 in Berlin-Marzhan und Duy Doan Pham 2011 im nie­der­rhei­ni­schen Neuss von Rechtsextremisten erstochen oder grausam erschlagen. Diese Tötungen stellen Stationen in der langen Reihe ras­sis­tisch moti­vierter Morde in Deutschland dar. Für den Zeitraum von 1990 bis 2020 hat die Amadeu Antonio Stiftung 208 Todesopfer rechts­extremer Gewalt auf­ge­listet und zählt min­destens zwölf weitere Verdachtsfälle. Die Zeit und andere Medien haben über weitere 51 Verdachtsfälle berichtet. Nach meiner Zählung wurden seit 1979 in Ost- und Westdeutschland min­destens 134 People of Color und ost­eu­ro­päische Migrant*innen auf­grund nach­ge­wie­sener oder ver­mut­licher ras­sis­ti­scher Mordmotive getötet.

Das Versagen von Politik und Medien: Entinnerung als institutioneller Rassismus

Wie vielen von uns fällt es mir auch nicht leicht, hier zu sein, um an die Terrorgeschichte dieses ras­sis­ti­schen Brandanschlags zu erinnern. Das hängt nicht zuletzt mit der Tatsache zusammen, dass die Geschichte von Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu nach wie vor kaum bekannt ist. Zwar wurde der Brandanschlag in den dama­ligen Medien kurz­zeitig wahr­ge­nommen. Aber bereits bei der Beerdigung, bei der der damalige Erste Bürgermeister Hamburgs Hans-Ulrich Klose eine Trauerrede hielt, wurden nicht nur die Opfer begraben, sondern auch das öffent­liche Gedenken an diese Tat. Die städ­ti­schen Honoratior*innen und die Medien, aber auch die hiesige Zivilgesellschaft gingen danach schnell zur mehr­heits­deut­schen Schein-Normalität über. Sie taten so, als ob diese Tat nichts weiter als ein pein­licher Fauxpas, ein allzu bedau­er­licher Betriebsunfall war, der kei­nes­falls als dau­er­hafter Schandfleck auf der weißen Weste in Erinnerung bleiben sollte. Unausgesprochen und viel­leicht auch unbe­wusst wurde damit ein domi­nanz­deut­scher Konsens her­ge­stellt, in der die unleugbare Existenz eines töd­lichen Rassismus weder lang­fristige noch tief­grei­fende Auswirkungen auf das eigene Weiße Selbstverständnis oder auf gesell­schaft­liche Strukturen haben sollte. Entsprechend sollte das Gedenken an diesen ras­sis­ti­schen Doppelmord keinen Platz in der offi­zi­ellen Stadtgeschichte, im Stadtraum und der öffent­lichen Erinnerungskultur bean­spruchen dürfen.

Wie gründlich diese Amnesie und wie radikal die Realitätsverdrängung des insti­tu­tio­nellen Rassismus ist, lässt sich auch noch heut­zutage erahnen: So berichtete die in Hamburg sit­zende Wochenzeitung „Die Zeit“ erst im Zusammenhang mit der skan­dal­um­wit­terten Aufdeckung des NSU-Terrors 2012 erst­malig seit 1980 wieder über diesen Brandanschlag. Das Medienhaus, das sich selbst als sys­tem­re­le­vanten Watchdog sieht, hat sich in diesem Fall merk­würdig unzu­fällig als Totalausfall erwiesen. Auch hat „Die Zeit“ ihre offen­sichtlich besondere Verantwortung für Đỗ Anh Lân gänzlich ver­gessen, der im August 1979 in einer von Wochenzeitung und dem Hamburger Senat initi­ierten Hilfs- und social Sponsoring-Aktion mit 250 anderen viet­na­me­si­schen Boat People von der malai­ischen Insel Pulau Bidong in die Hansestadt trans­por­tiert wurde.

Daher ist es für uns umso wich­tiger, wenigstens die Erinnerung lebendig zu halten und diese Geschichte und alle anderen Geschichten nicht zu ver­gessen ist, wo Menschen Leidtragende von Rassismus, Sexismus, kapi­ta­lis­ti­schen Neo-Kolonialismus und anderen men­schen­ver­ach­tenden Machtverhältnissen wurden und immer noch werden. Es ist wichtig, dass wir uns heute hier und anderswo ver­sammeln, um durch unsere kör­per­liche Präsenz und durch unser gemein­sames Gedenken zumindest ein tem­po­räres, aber dafür leben­diges Denkmal zu impro­vi­sieren und durch unsere Stimmen einen wahr­nehm­baren Gedenkraum für alle Opfer ras­sis­ti­scher Gewalt zu inszenieren.

Das offi­zielle Nicht-Erinnern ist jedoch kein Zufall, sondern die logische Konsequenz der hege­mo­nialen Entinnerung. Damit bezeichne ich insti­tu­tio­nelle Strukturen und politisch-kulturelle Praktiken des Vergessenmachens, der Nicht-Würdigung und Aberkennung. Dass heute kein Mahnmal, keine dau­er­hafte Gedenktafel, keine Straße, kein Park, keine Schule, keine Halle, kein Sportplatz, kein Bahnhof, kein Haus, kein Zug, kein Schiff, kein Stolperstein, nicht mal ihre inzwi­schen auf­ge­lösten Gräber an ihre Existenz und an das ras­sis­tische Verbrechen ihrer Auslöschung erinnert, sagt extrem viel über deutsche Gründlichkeit, ras­sis­ti­schen Sauberkeitswahn und Weiße Stadtplanung aus. An dieser Stelle sei kurz daran erinnert, dass ihre unaus­sprech­lichen viet­na­me­si­schen Namen dem zustän­digen Bezirksamt bei der Prüfung des Straßenumbenennungs­Begehrens als unpas­sende Fremd- und unzu­mutbare Klangkörper erschienen. Mir scheint dagegen, dass in der angeblich so welt­of­fenen Hansestadt für die Opfer des Rassismus enge büro­kra­tische Toleranzgrenzen und sprach­liche Reinheitsgebote des Eurozentrismus gelten. Umso mehr, wenn es darum geht, ihnen einen offi­zi­ellen Erinnerungsort in der heu­tigen Stadtlandschaft einzuräumen.

Um fair zu sein, wir kennen auch aus anderen Städten viele gleich­ge­la­gerte Beispiele, so dass die euro­zen­tris­tische Aufladung bei der Benennungspolitik öffent­licher Orte kein spe­zi­fi­sches Problem Hamburgs ist. In der gesamt­deut­schen Normalitätsvorstellung herrscht anscheinend immer noch eine urdeutsche Norm ohne Migrationserfahrungen und gegen­kul­tu­reller Globalisierung. In dieser Konstruktion der deut­schen Normalität erscheint es immer noch ratio­naler und poli­tisch kor­rekter, Akteure und Orte mit kolonial-rassistischen Bezügen zu ehren als Menschen, die sich dagegen gewandt und/oder dar­unter gelitten haben. Umso schein­hei­liger, hohler und absurder ist dieses Polit-Theater im 21. Jahrhundert, wenn im gleichen Atemzug auch noch der Anspruch auf welt­po­li­tische und mora­lische Überlegenheit damit ver­bunden wird. In den ach so auf­ge­klärten, offenen und inter­kul­tu­rellen Demokratien des Westens ist weder die euro­päische Geschichte des Kolonialrassismus auf­ge­ar­beitet noch seine Gegenwart tat­sächlich überwunden.

Die Umbenennung der Halskestrasse in Châu-und-Lân-Strasse, viel­leicht auch Đỗ-Nguyễn-Strasse oder eine andere Namensvariation wäre aus meiner Sicht ein sinn­stif­tender Beitrag zur anti­ras­sis­ti­schen Umgestaltung und Dekolonialisierung deut­scher Stadt- und Alltagskultur. Auf jeden Fall sollte der Senat in die Pflicht genommen werden um even­tuell über­le­bende Familienangehörige von Nguyễn Ngọc Châu aus­findig zu machen und zu kon­tak­tieren, um ihre Einbeziehung in den Umbenennungsprozess auf gleicher Augenhöhe sicher­zu­stellen. Eine Umbenennung würde darüber hinaus auch dazu bei­tragen, unsere Ausgrenzungsmöglichkeiten zu redu­zieren und unsere Vorstellungskraft davon zu ver­ändern, wer dazu und was alles hierher gehört. Sie wäre ein kul­tu­reller und bil­dungs­po­li­ti­scher Mehrwert, den wir in Zeiten des struk­tu­rellen Racial Profiling, des unheim­lichen Phänomens NSU 2.0 in der deut­schen Polizei und des assi­mi­la­to­ri­schen Integrationsparadigmas unbe­dingt brauchen.

Rechtsextreme Kontinuitäten in den staatlichen Sicherheitsorganen

Was die staat­lichen Sicherheitsorgane angeht, so zeigen nicht nur die jüngsten Ereignisse, dass rechts­extreme und ras­sis­tische Polizeigewalt ein mas­sives sys­te­mi­sches Problem dar­stellen. Der Grad der Unterscheidbarkeit zwi­schen staat­lichen Sicherheits- und Terrortruppen ist in Deutschland zuweilen erschre­ckend klein. Nicht nur die Polizei in unter­schied­lichen Bundesländern, auch diverse Verfassungsschutzämter und Bundeswehreinheiten sind in den ver­gan­genen Jahrzehnten immer wieder durch haar­sträu­bende Verwicklungen zu rechts­extremen Organisationen auf­ge­fallen. Dokumentiert sind aller­dings nur die auf­ge­deckten Fälle, aber es ist davon aus­zu­gehen, dass es in diesem Bereich eine hohe Dunkelquote an geheim ope­rie­renden Netzwerken und Tarn­organisationen gibt. Diese Verbindungen wurden vor allem durch anti­fa­schis­tische Aktivist*innen und inves­ti­gative Journalist*innen ent­deckt, während staat­liche Stellen bislang eher durch Beschwichtigungen und Dementis auf­fielen. Der Stellenwert ras­sis­ti­scher Gewalt in den Staats­organen muss in Relation zur gesamt­ge­sell­schaft­lichen Verfasstheit gesehen werden, die in ihrem Kern struk­turell, administrativ-institutionell und zwei­fellos auch kul­turell ras­sis­tische Muster auf­weist. Diese Konfiguration bringt im Alltag exis­ten­zielle Probleme hervor, da nicht selten Weiße Entscheider*innen mit dis­kri­mi­na­to­ri­schen Vorurteilen oder Motivationen im staat­lichen Auftrag handeln: Ob jemand sicher in Deutschland leben darf und kann, hängt viel zu oft von der Perspektive und der staatlich anver­trauten Entscheidungsmacht ras­sis­ti­scher Subjekte ab.

Wer sich die Geschichte des Rechtsextremismus in Deutschland seit dem Deutschen Kolonial­kaiserreich anschaut, kann sich kaum des Eindrucks erwehren, dass sich gerade in den soge­nannten Sicherheitsorganen starke rechts­extreme Tendenzen kon­zen­trieren. Das galt nicht nur in der Weimarer Republik, sondern bei­spiels­weise auch in den 1980er Jahren, als auf­fällig viele Polizist*innen sich als Mitglieder und Sympathisant*innen der völkisch-nationalistischen „Republikaner“ von Franz Schönhuber zu erkennen gaben, der früher SS-Unterscharführer war, damals als stell­ver­tre­tender Chefredakteur des regio­nalen Fernsehprogramms des Bayerischen Rundfunks fun­gierte und später zur NPD abwan­derte. Und es gilt auch heute: Wer jetzt durch die Mitgliedslisten der AFD geht, wird wie­der­kehrend auf deutsch klin­gende Namen mit ehren­werten bür­ger­lichen Berufen stoßen. Darunter sind viele Richter*innen, Staats- und Rechtsanwälte, Staatsbeamte und andere Verwaltungsangestellte, Professor*innen, Lehrer*innen, Journalist*innen, aber natürlich auch Berufe von Architekt*innen bis Unternehmer*innen und nicht zuletzt immer wieder Polizist*innen. Wie uns leider die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mehr als einmal gelehrt hat, werden rechts­extreme Bewegungen viel zu häufig von einem struk­tur­kon­ser­va­tiven Rechtssystem ent­schuldigt und von der Mehrheit der Weißen Volksvertreter*innen ver­harmlost, sehr oft mit dem Standardsatz: „Wie müssen die Sorgen und Ängste der deut­schen Bevölkerung ernst nehmen.“ Befremdlich ist mir an solchen Sätzen die Selbstverständlichkeit, mit der Bürger*innen of Color, migran­tische und post­mi­gran­tische Communities aus der deut­schen Gesellschaft und Wähler*innen­schaft aus­ge­schlossen werden. Menschen wie wir werden so in Gedanken quasi ent­bürgert, d.h. ent­rechtet und unsichtbar gemacht. Aber sie irren sich: Unsere Stimmen zählen und das min­destens sogar im dop­pelten Sinne.

Der Präzedenzfall Walter Lübcke setzt neue erinnerungspolitische Standards

Wie die Gedenk- und Erinnerungskultur zugunsten der Opfer rechts­extremer Gewalt im besten Falle aus­sehen kann, wenn der poli­tische Willen vor­handen ist und eine genuine iden­ti­täts­po­li­tische Betroffenheit vor­liegt, zeigt die Geschichte von Walter Lübcke. Wie wahr­scheinlich alle hier wissen, war Walter Lübcke zunächst Hessischer Landtagsabgeordneter der CDU und zuletzt als Regierungspräsident in Kassel tätig bevor er im Juni 2019 von einem Rechtsextremisten ermordet wurde. Sein Mord löste eine über­wäl­ti­gende Medienresonanz und eine sehr große Betroffenheit in der Bevölkerung aus: Es fanden mehrere Trauergottesdienste und zahl­reiche Gedenk­veranstaltungen in meh­reren Landtagen sowie im Bundesrat statt. Ihm wurde posthum neben der Wilhelm-Leuschner-Medaille, die höchste Auszeichnung des Landes Hessen, auch der nord­hes­sische Herkules-Ehrenpreis ver­liehen. Hessen hat zudem den neuen Walter-Lübcke-Demokratie-Preis aus­gelobt; eine Schule in Wolfhagen, wo er wohnte, wird nach Walter Lübcke umbe­nannt und in Fulda wird es bald eine Dr.-Walter-Lübcke-Straße geben. Diese Aufzählung ist nicht end­gültig, da in Zukunft sicherlich mit wei­teren Ehrungen zu rechnen ist. Mir steht es fern, an dieser Stelle das poli­tische Wirken von Walter Lübcke oder die ihm zuge­dachten Ehrungen in Zweifel zu ziehen. Vielmehr finde ich es sehr beein­dru­ckend, in welcher Geschwindigkeit und Dichte hier Denkmäler und öffent­liche Erinnerungsorte geschaffen werden und büro­kra­tische Anforderungen scheinbar mühelos erfüllt werden können. Das ist umso erstaun­licher, da in anderen Fällen diese von städ­ti­schen Verwaltungen als schier unüber­windbare formale Hindernisse dar­ge­stellt werden. Trotz lang­jäh­riger Bemühungen ver­laufen viele Initiativen daher im Sande, während Ämter und zuständige poli­tische Gremien mit Unschuldsmiene auf fel­sen­feste Vorschriften und gesetz­liche Vorgaben verweisen.

Der Präzedenzfall Walter Lübcke setzt m.E. nach neue Standards im kultur- und erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Umgang mit den Opfern rechts­extremer Gewalt. Weder sachlich noch poli­tisch oder mora­lisch ist es begründbar und zu recht­fer­tigen, dass sich eine Zweiklassengesellschaft in der öffent­lichen Gedenkkultur eta­bliert. Da wir alle über unsere Steuern diese Gedenkkultur mit­fi­nan­zieren, ver­langt nicht nur die Betroffenheit von Rassismus, sondern auch die demo­kra­tische Repräsentation eine nicht-diskriminatorische Erinnerungspolitik. Vielleicht ist es in diesem Zusammenhang nicht ver­kehrt, die poli­tische Elite an ihrem eigenen neo­li­be­ralen Grundsatz zu erinnern: no taxation without repre­sen­tation. Bisher hat der insti­tu­tio­nelle Rassismus in den gesell­schaft­lichen Strukturen eine Entsprechung in der selek­tiven Erinnerungspolitik und öffent­lichen Gedenkkultur, die sys­te­ma­tisch Menschen of Color mar­gi­na­li­sieren und ausschließen.

Es gibt also einen Rassismus zweiter Ordnung, etwa in Form der kul­tur­po­li­ti­schen Institutionalisierung von Diskriminierung und Benachteiligung, die auf dem initialen kör­per­lichen Angriff oder dem ursprüng­lichen struk­tu­rellen Rassismus in der Schule oder auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt folgt und ihr als sich selbst ver­stär­kender Kreislauf gleich­zeitig vor­ausgeht. Solange wir diese kul­tu­relle Dimension nicht erkennen, also die zweite und weitere Ebenen des Rassismus wahr­nehmen, stoßen wir an Grenzen, die die Unmöglichkeit der Erinnerbarkeit und des Erkennens von Rassismus betreffen. Diese mit­ein­ander ver­schränkte Komplexität zu erkennen und ihre ver­krus­teten Dominanzstrukturen auf­zu­brechen, ist eine dringend zu lösende Aufgabe in der Gegenwart. Ich denke, dass die trans­kon­ti­nentale Solidarität mit der US-Amerikanischen Black Lives Matter-Bewegung und ihre hie­sigen Rückkoppelungen etwa in Form des erst­ma­ligen Interesses für die Dekolonialisierung euro­zen­tris­ti­scher Kulturstandards oder die Auseinander­setzung mit insti­tu­tio­nellem Rassismus in brei­teren Bevölkerungskreisen ein wich­tiges poli­ti­sches Momentum für anti­ras­sis­tische Initiativen bereit­stellt. Jetzt geht es darum, den Mut und die orga­ni­sa­to­rische Schlagkraft auf­zu­bringen, um in lokalen Gruppen, bun­des­weiten Netzwerken und glo­balen Bewegungen die Verhältnisse vor Ort wie in den sys­tem­re­le­vanten Strukturen weltweit in Frage zu stellen und lebens­werte Alternativen zu entwickeln. 

Meine Rede möchte ich hier mit einer Erkenntnis der Schwarzen ame­ri­ka­ni­schen Psychologin Beverly Daniel Tatum schließen. Die von ihr beschriebene schlei­chende Vergiftung macht uns dau­erhaft krank und führt uns als Individuen wie als Gesellschaft alter­na­tivlos zum Tode.

Sie schreibt: „Cultural racism … is like smog in the air. Some days it is so thick it is visible, other times it is less apparent, but always, day in and day out, we are breathing it in.“

Meine Übersetzung: Kultureller Rassismus … ist wie Smog in der Luft. An manchen Tagen ist er so dick, dass er sichtbar ist, an anderen ist er weniger offen­sichtlich, aber immer, Tag für Tag, atmen wir ihn ein.

Kien Nghi Ha, pro­mo­vierter Kultur- und Politikwissenschaftler, arbeitet als Publizist und Dozent in Berlin. Seine Monografie Unrein und ver­mischt. Postkoloniale Grenzgänge durch die Kulturgeschichte der Hybridität und der kolo­nialen „Rassenbastarde“ (tran­script 2010) wurde mit dem Augsburger Wissenschaftspreis für Interkulturelle Studien 2011 aus­ge­zeichnet. Im Herbst 2020 gibt er die erwei­terte Neuauflage von Asiatische Deutsche. Vietnamesische Diaspora and Beyond (Assoziation A) heraus. Er ist auch Mitherausgeber von re/visionen. Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland (Unrast 2007).


*Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân, https://inihalskestrasse.blackblogs.org

[1] Wie bei Schwarz deutet die Großschreibung von Asiatisch an, dass es in diesem Fall nicht als Adjektiv zur regio­nalen Herkunftsbezeichnung benutzt wird, sondern kul­tu­relle Identitätskonstruktionen bezeichnet. Diese sind wie alle Identitäten umkämpft und wider­sprüchlich, da sowohl Praktiken der Selbstbezeichnung als auch Prozesse des Fremdwahrnehmung und des Otherings einfließen.

Blog

Eine Nacht im April, knapp drei Monate nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Deutschland: Eine Gruppe Mitfahrender belästigt ein süd­ko­rea­ni­sches Paar mit sexis­ti­schen und ras­sis­ti­schen Beleidigungen in der Berliner U‑Bahn. Zwei weitere Mitfahrende beob­achten den Vorfall unter Gelächter. Als eine der betrof­fenen Personen beginnt den Vorfall per Handykamera zu doku­men­tieren, greift ein Teil der Gruppe das Paar kör­perlich an und bespuckt die beiden. Die Polizei wird noch während der U‑Bahnfahrt ein­ge­schaltet. Sie kann die aus der U‑Bahnstation Fehrbelliner Platz flüch­tenden Angreifer nicht stellen, macht aber die beiden Beobachter*innen ausfindig. 

Das Paar will Anzeige stellen, was die Polizei jedoch mit der Begründung ablehnt, dass es sich seitens der Angreifenden nicht um ras­sis­ti­sches Verhalten handele. Erst nachdem eine der beiden Betroffenen tele­fo­nisch den süd­ko­rea­ni­schen Vizekonsul kon­tak­tiert, lenken die Polizist*innen ein. Sie nehmen nun zwei Anzeigen auf, unter anderem auch eine gegen die beiden Betroffenen: Die beiden Beobachter*innen fühlen sich ras­sis­tisch beleidigt. Das Paar hat sie als Rassist*innen bezeichnet.

Rassismus in Zeiten von Corona

Seit Beginn der Corona-Pandemie hat die Zahl und das Ausmaß an ver­baler und kör­per­licher Gewalt gegenüber asia­tisch gele­senen Personen in Deutschland und auch weltweit stark zuge­nommen. Erfahrungen, die Betroffene über Social Media öffentlich machen, decken sich mit den Daten aus dem Infopapier zu Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Dieses hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Anfang Mai bereitgestellt.

Von den 100 Beratungsanfragen, die bis Mitte April im Zusammenhang mit dem Coronavirus ein­ge­gangen sind, handelt es sich in 58 Fällen um Diskriminierungserfahrungen aus ras­sis­ti­schen Gründen, besonders von Personen, denen eine asia­tische Herkunft zuge­schrieben wird. Die Erfahrungen reichen von ver­balen und kör­per­lichen Attacken zur Verweigerung von medi­zi­ni­schen Behandlungen oder Dienstleistungen und Bedrohungen durch Hassbotschaften am Arbeitsplatz und am Wohnort. Auch Fälle von insti­tu­tio­nellem Rassismus wurden gemeldet, z.B. durch Racial Profiling, also Polizeikontrollen auf Basis von ste­reo­ty­pi­sie­renden Annahmen und äußer­lichen Merkmalen.

Die Dunkelziffer ras­sis­ti­scher Übergriffe auf asia­tisch gelesene Personen ist auf ein Vielfaches höher ein­zu­schätzen. Darauf lassen die zahl­reichen Erfahrungen und Zeug*innenberichte schließen, die Betroffene bisher in pri­vaten Accounts in den sozialen Netzwerken, der Presse und unter dem Hashtag #IchBinKeinVirus geteilt haben. Dazu kommen die Erlebnisse all der­je­nigen, die sich dazu ent­schieden haben, mit diesen indi­vi­du­ellen und oft scham­vollen Erfahrungen nicht nach außen zu treten oder die keinen Zugang zu Hilfs- und Dokumentationsstrukturen haben.

Rassistische Berichterstattung zu Corona

Ebenfalls mit Beginn der Corona-Pandemie haben kori­en­tation und viele andere Asiatisch-Deutsche Akteur*innen einen Anstieg pro­ble­ma­ti­scher Medienberichterstattung zu COVID-19 fest­ge­stellt und öffentlich darauf hin­ge­wiesen. Bereits am 5. Februar hat das Team von kori­en­tation gemeinsam mit den Neuen deut­schen Medienmacher*innen in der Pressemitteilung „Rassismus ‚Made in Media‘ – Diskriminierende Berichterstattung zum Coronavirus“ darauf auf­merksam gemacht. Die Pressemitteilung weist auf den Zusammenhang von dis­kri­mi­nie­rendem und kul­tu­ra­li­sie­rendem Framing und/oder mehr­deu­tigen, ste­reo­ty­pi­sie­renden, kli­schee­be­la­denen und unsach­lichen Text-Bild-Verknüpfungen in Beiträgen vom Spiegel, der Bild und des FOCUS Magazins und dem wach­senden anti-asiatischem Rassismus hin. Trotz Hinweisen und Handlungsvorschlägen zum dis­kri­mi­nie­rungs­sen­siblen Berichten wird die Liste der Artikel, Cover und Bebilderungen, die anti-asiatischen Rassismus befeuern bis heute stetig länger.

Wir alle wissen, dass ste­reo­ty­pi­sie­rende und sug­gestive Sprache und Bilder beein­flussen, wie Menschen wahr­ge­nommen werden. Dabei geht es nicht allein um Worte einiger weniger aus dem kon­ser­va­tiven und rechten Spektrum. Auch mediale Berichterstattung hat darin eine Verantwortung. Sie ist nicht unschuldig, denn: Bilder wecken Assoziationen, Sprache schafft Wirklichkeit und Worte führen zu Taten. Bebilderungen von Integrationsdebatten mit kopf­tuch­tra­genden Frauen (meist von hinten) oder Generalverdächtigung eines gesamten Berliner Stadtteils als „Clan-Kriminelle“ gehören dazu. Wir wissen his­to­risch durch den Nationalsozialismus und erleben gegen­wärtig mit den NSU Morden und den Morden in Hanau, wie dis­kri­mi­nie­rende Repräsentation von Minderheiten zu töd­lichen Konsequenzen führt.

Wenn der Spiegel schreibt: „CORONA VIRUS – Made in China [in gelber Schrift] – Wenn Globalisierung zur töd­lichen Gefahr wird“, der Schwarzwälder Bote über einen lokalen Karneval mit dem Titel „Chinese mit Atemschutzmaske baumelt über der Stadt“ berichtet und der Cicero seine Mai-Ausgabe mit „Gruß aus Wuhan – China, Corona und der Schaden für die Welt“ betitelt, wissen asia­tische gelesene Menschen und BIPoC, was als nächstes pas­siert – nämlich ange­spuckt, beleidigt, mit Desinfektionsmittel ein­ge­sprüht, vom Fahrrad geschubst werden und mehr.

Vielen ist dies nicht bewusst, andere blenden es aus. Wir bezweifeln jedoch, dass es saubere jour­na­lis­tische Arbeit ist, Bilder wie „die Gelbe Gefahr“, die ihren ras­sis­ti­schen Ursprung in der Kolonialzeit haben, ohne Kontextualisierung auf die Corona-Pandemie zu über­tragen und wieder salon­fähig zu machen. Gleiches gilt für Redaktionen, die mit dem Schüren von Panik und der Emotionalisierung ihrer Leser*innen darauf abzielen, ihre Auflage- und Absatzzahlen zu steigern. Ob unbe­wusst oder ignorant, sie handeln fahr­lässig und nehmen für kapi­ta­lis­ti­schen Gewinn in Kauf, ras­sis­tische Gewalt zu verstärken.

Fremddarstellung von asiatisch gelesenen Menschen und ihre Folgen

Was vielen nicht-asiatischen Menschen ver­mutlich auch nicht bewusst ist: Die Fremddarstellung asia­tisch gele­sener Menschen hat eine lange Kontinuität, deren Auswirkungen asia­tische Menschen heute noch spüren.

Nehmen wir das Beispiel „Yellow Fever“ – oder in anderen Worten: die Fetischisierung asia­ti­scher Frauen*. Yellow Fever gründet auf dem Bild der (sexuell) unter­wür­figen asia­ti­schen Frau*, das – wer hätte es geahnt – ein weißer Schriftsteller namens Pierre Loti im Jahr 1887 als Motiv für seine Novelle „Madame Chrysanthème“ gewählt hat und das seitdem in Opern, Musicals und zahl­reichen Filmen bis heute repro­du­ziert wird. Verstärkt wurde dieses Bild durch sys­te­ma­tische Förderung von Prostitution in süd‑, süd-ost- und ost-asiatischen Ländern zum Zweck der „Rest and Relaxation“ US-amerikanischer Soldaten während der Kriege in Japan, Korea und Vietnam. 85% der US-Soldaten gaben an, bei dieser Gelegenheit sexu­ellen Kontakt zu einer Prostituierten gehabt zu haben. Diese Fetischisierung wie­derum spiegelt sich in den hohen Klickzahlen der ras­si­fi­zierten Pornokategorie „asia­tisch“ und hat nega­tiven Einfluss auf die Lebensrealitäten asia­tisch gele­sener Frauen*. kori­en­tation wurde Anfang April von einer betrof­fenen Person über gehäufte Fälle infor­miert, in denen ein weißer Mann in Berlin-Kreuzberg gezielt asia­tische Frauen* digital ges­talked, sexuell belästigt und emo­tional mani­pu­liert hat.

Im Coronakontext erleben asia­tisch gelesene Frauen* in einer wei­teren Dimension, wie sich ras­sis­tische und sexua­li­sierter Gewalt in obs­zönen und ent­wür­di­genden Übergriffen ver­quickt: Eine asia­tisch gelesene Frau berichtet, dass ihr ein fremder Mann seinen Finger in den Mund gesteckt und dann lachend behauptet hat, er sei schon mit dem Virus infi­ziert, aber er liebe asia­tische Frauen.

Model Minority Myth und anti-asiatischer Rassismus

Mit der Zuschreibung, eine „Model Minority“, also die „gut Integrierten“ zu sein, erfahren manche asia­tisch gelesene Personen (v.a. die sicht­baren) im Vergleich zu anderen negativ stig­ma­ti­sierten People of Color (u.a. auch weniger sichtbare asia­tische* Gruppen) eine gesell­schaft­liche Besserbehandlung. Der Preis für diese Privilegien ist die Erfüllung und Verinnerlichung der ste­reo­typen Rolle der „stillen Asiat*innen“ und ent­spre­chend dank­bares Verhalten. Doch diese Rechnung geht nicht auf, denn über diese ver­meintlich „positive“ (vor allem aber auch pater­na­lis­tische) Zuschreibung werden die ver­schie­denen von Rassismus negativ betrof­fenen Gruppen hier­ar­chi­siert und gegen­ein­ander aus­ge­spielt. Und der Rassismus gegen asia­tisch gelesene Personen exis­tiert trotzdem, auch wenn Betroffenen ihre Rassismuserfahrungen oft abge­sprochen oder nicht ernst genommen werden.

Besonders pro­ble­ma­tisch wird es, wenn dies durch die­je­nigen Strukturen geschieht, deren Aufgabe es ist, Personen zu schützen, Straftaten zu ver­folgen und Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Das Verhalten der Polizei, die im Angriff auf das ein­gangs genannte korea­nische Paar weder sexuelle noch ras­sis­tische Belästigung erkennen wollte, findet dabei auf der ver­gleichs­weise noch „harm­lo­seren“ Seite des Spektrums insti­tu­tio­nellen Rassismus statt.

Wir möchten an dieser Stelle aber auch daran erinnern:

Dass beim mehrmals in der Presse ange­kün­digten Pogrom in Rostock-Lichtenhagen von 1992 sowohl die Polizei als auch die Landesregierung von Mecklenburg Vorpommern ras­sis­tische Motive igno­riert, und Hilfeleistung und Strafverfolgung unter­lassen haben.

Dass die Polizei bei einer Festnahme viet­na­me­si­scher Männer 1993 in Bernau und 1994 in Leipzig Racial Profiling, ras­sis­tische und sexua­li­sierte Gewalt ange­wendet hat.

Und dass im Mai 2016 die chi­ne­sische Architekturstudentin Yangjie Li von einem Mann ver­ge­waltigt und ermordet wurde, dessen Mutter zum Zeitpunkt der Tat Polizistin und dessen Stiefvater Polizeichef von Dessau waren. Letzterer half dem Täter und dessen Freundin kurze Zeit nach dem Mord beim Umzug aus der Wohnung in unmit­tel­barer Nähe des Tatorts. In Dessau ist 2005 auch Oury Jalloh, eine Schwarze Person, unter unge­klärten Umständen in Polizeigewahrsam verbrannt.

Was müssen wir also tun?

Rassismus gegen asia­tisch gelesene Personen ist eine von vielen ver­schie­denen Formen des „Othering“, also der Konstruktion eines ras­si­fi­zierten „Anderen“. Er findet auf unter­schied­lichen struk­tu­rellen Ebenen, in unter­schied­lichen Bereichen, mit unter­schied­lichen geschicht­lichen Kontexten und in unter­schied­lichen Funktionen statt. Er ist oftmals geschlechts­spe­zi­fisch und variiert auch entlang anderer Diskriminierungskategorien. Er ist ebenso viel­fältig wie die Positionierungen asia­tisch gele­sener Menschen in Deutschland. Der spe­zi­fisch mit der Corona-Pandemie auf­flam­mende Rassismus richtet sich in unter­schied­lichen Ausprägungen auch gegen Jüdische Menschen, Sint*ezza und Rom*nja, Schwarze Menschen und andere People of Color. Eine feh­lende Positionierung bzw. Schweigen und Abwertung ihrer Rassismuserfahrungen (nicht nur im Corona-Kontext) sind Bestandteile einer Dynamik, mit der Betroffenen gezeigt wird, dass sie in der Gesellschaft keine gleich­wertige Position einnehmen.

Als Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven schließen wir fol­gendes Fazit:

Politiker*innen, Behörden, Schulen, Polizei und Verwaltungen müssen das Thema anti-asiatischer Rassismus auf­greifen und eine klare Stellung dazu beziehen. Außenminister Heiko Maas hatte sich Anfang April zwar kri­tisch zu den im Coronakontext auf­ge­tre­tenen Beleidigungen gegenüber Französ*innen geäußert, anti-asiatischer Rassismus scheint aber bisher kein Thema zu sein. Wenn staat­liche Institutionen dazu schweigen, ver­mittelt dies die Botschaft, dass ras­sis­ti­sches Verhalten akzep­tiert wird und erlaubt ist. Institutionen müssen einen Plan und Regeln ent­wi­ckeln, wie mit ras­sis­ti­schem und dis­kri­mi­nie­rendem Verhalten umge­gangen werden soll.

Alle Polizist*innen müssen verbale und kör­per­liche Angriffe auf asia­tisch gelesene Menschen ernst­nehmen und ihrer Verpflichtung nach­kommen, dagegen Anzeige auf­zu­nehmen. Die Polizei muss sich sowohl intern als auch im Kontakt nach außen ernsthaft mit diesem Thema beschäf­tigen und sich sen­si­bi­li­sieren. Für die Betroffenen ras­sis­ti­scher Übergriffe ist es doppelt trau­ma­ti­sierend, wenn ihnen ver­mittelt wird, dass ihre Erfahrungen eine Strafverfolgung nicht wert sind.

Personen, die nicht negativ von Rassismus betroffen sind, sollen Erfahrungen asia­tisch gele­sener Menschen nicht in Frage stellen oder ver­harm­losen und jede Form von anti-asiatischem Rassismus unter­lassen. Daher der Appell: Wenn Ihr ras­sis­tische Übergriffe beob­achtet, zeigt Euch soli­da­risch und leistet Beistand. Lasst ras­sis­ti­sches Verhalten nicht einfach stehen oder igno­riert es. Jede Person, die sich in so einem Fall kri­tisch äußert, kann Vorbild für andere sein.

Medienschaffende müssen sich und ihre Redaktionen grund­sätzlich und spe­ziell im Kontext der Corona-Pandemie auf kul­tu­ra­li­sie­rendes, ste­reo­ty­pi­sie­rendes, unsach­liches oder ras­sis­ti­sches Framing bzw. Bild-Text-Verknüpfungen über­prüfen und nach­bessern. Als Hilfestellung, wie es besser gemacht werden kann, emp­fehlen wir Glossare und Leitfäden zum dis­kri­mi­nie­rungs­sen­siblen Sprachgebrauch. Auf der Webseite von No Hate Speech https://no-hate-speech.de/de/wissen/ ist eine Sammlung zu finden.

Und zu guter Letzt: Liebe Asiatisch-Deutsche Menschen, scheisst auf den Model Minority Mythos, er bringt Euch nichts außer ein fal­sches Gefühl von Anerkennung. Auch für uns und gerade in Anbetracht der nicht endenden ras­sis­ti­schen (Polizei-)Gewalt in den USA und hier in Deutschland vor allem gegen Schwarze Menschen ist es unum­gänglich, uns selbst zu reflek­tieren. Im Vergleich zu anderen von Rassismus negativ Betroffenen, aber auch innerhalb und zwi­schen unseren Communities sind Privilegien ungleich ver­teilt. Lasst uns darüber sprechen, von­ein­ander lernen, unsere eigenen ver­in­ner­lichten Rassismen ver­lernen, gemeinsam auf­stehen und uns und andere BIPoC in ihren Kämpfen unter­stützen!

Sina Schindler, kori­en­tation e.V.