Eine Nacht im April, knapp drei Monate nach Ausbruch der COVID-19-Pandemie in Deutschland: Eine Gruppe Mitfahrender belästigt ein südkoreanisches Paar mit sexistischen und rassistischen Beleidigungen in der Berliner U‑Bahn. Zwei weitere Mitfahrende beobachten den Vorfall unter Gelächter. Als eine der betroffenen Personen beginnt den Vorfall per Handykamera zu dokumentieren, greift ein Teil der Gruppe das Paar körperlich an und bespuckt die beiden. Die Polizei wird noch während der U‑Bahnfahrt eingeschaltet. Sie kann die aus der U‑Bahnstation Fehrbelliner Platz flüchtenden Angreifer nicht stellen, macht aber die beiden Beobachter*innen ausfindig.
Das Paar will Anzeige stellen, was die Polizei jedoch mit der Begründung ablehnt, dass es sich seitens der Angreifenden nicht um rassistisches Verhalten handele. Erst nachdem eine der beiden Betroffenen telefonisch den südkoreanischen Vizekonsul kontaktiert, lenken die Polizist*innen ein. Sie nehmen nun zwei Anzeigen auf, unter anderem auch eine gegen die beiden Betroffenen: Die beiden Beobachter*innen fühlen sich rassistisch beleidigt. Das Paar hat sie als Rassist*innen bezeichnet.
Rassismus in Zeiten von Corona
Seit Beginn der Corona-Pandemie hat die Zahl und das Ausmaß an verbaler und körperlicher Gewalt gegenüber asiatisch gelesenen Personen in Deutschland und auch weltweit stark zugenommen. Erfahrungen, die Betroffene über Social Media öffentlich machen, decken sich mit den Daten aus dem Infopapier zu Diskriminierungserfahrungen im Zusammenhang mit der Corona-Krise. Dieses hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes Anfang Mai bereitgestellt.
Von den 100 Beratungsanfragen, die bis Mitte April im Zusammenhang mit dem Coronavirus eingegangen sind, handelt es sich in 58 Fällen um Diskriminierungserfahrungen aus rassistischen Gründen, besonders von Personen, denen eine asiatische Herkunft zugeschrieben wird. Die Erfahrungen reichen von verbalen und körperlichen Attacken zur Verweigerung von medizinischen Behandlungen oder Dienstleistungen und Bedrohungen durch Hassbotschaften am Arbeitsplatz und am Wohnort. Auch Fälle von institutionellem Rassismus wurden gemeldet, z.B. durch Racial Profiling, also Polizeikontrollen auf Basis von stereotypisierenden Annahmen und äußerlichen Merkmalen.
Die Dunkelziffer rassistischer Übergriffe auf asiatisch gelesene Personen ist auf ein Vielfaches höher einzuschätzen. Darauf lassen die zahlreichen Erfahrungen und Zeug*innenberichte schließen, die Betroffene bisher in privaten Accounts in den sozialen Netzwerken, der Presse und unter dem Hashtag #IchBinKeinVirus geteilt haben. Dazu kommen die Erlebnisse all derjenigen, die sich dazu entschieden haben, mit diesen individuellen und oft schamvollen Erfahrungen nicht nach außen zu treten oder die keinen Zugang zu Hilfs- und Dokumentationsstrukturen haben.
Rassistische Berichterstattung zu Corona
Ebenfalls mit Beginn der Corona-Pandemie haben korientation und viele andere Asiatisch-Deutsche Akteur*innen einen Anstieg problematischer Medienberichterstattung zu COVID-19 festgestellt und öffentlich darauf hingewiesen. Bereits am 5. Februar hat das Team von korientation gemeinsam mit den Neuen deutschen Medienmacher*innen in der Pressemitteilung „Rassismus ‚Made in Media‘ – Diskriminierende Berichterstattung zum Coronavirus“ darauf aufmerksam gemacht. Die Pressemitteilung weist auf den Zusammenhang von diskriminierendem und kulturalisierendem Framing und/oder mehrdeutigen, stereotypisierenden, klischeebeladenen und unsachlichen Text-Bild-Verknüpfungen in Beiträgen vom Spiegel, der Bild und des FOCUS Magazins und dem wachsenden anti-asiatischem Rassismus hin. Trotz Hinweisen und Handlungsvorschlägen zum diskriminierungssensiblen Berichten wird die Liste der Artikel, Cover und Bebilderungen, die anti-asiatischen Rassismus befeuern bis heute stetig länger.
Wir alle wissen, dass stereotypisierende und suggestive Sprache und Bilder beeinflussen, wie Menschen wahrgenommen werden. Dabei geht es nicht allein um Worte einiger weniger aus dem konservativen und rechten Spektrum. Auch mediale Berichterstattung hat darin eine Verantwortung. Sie ist nicht unschuldig, denn: Bilder wecken Assoziationen, Sprache schafft Wirklichkeit und Worte führen zu Taten. Bebilderungen von Integrationsdebatten mit kopftuchtragenden Frauen (meist von hinten) oder Generalverdächtigung eines gesamten Berliner Stadtteils als „Clan-Kriminelle“ gehören dazu. Wir wissen historisch durch den Nationalsozialismus und erleben gegenwärtig mit den NSU Morden und den Morden in Hanau, wie diskriminierende Repräsentation von Minderheiten zu tödlichen Konsequenzen führt.
Wenn der Spiegel schreibt: „CORONA VIRUS – Made in China [in gelber Schrift] – Wenn Globalisierung zur tödlichen Gefahr wird“, der Schwarzwälder Bote über einen lokalen Karneval mit dem Titel „Chinese mit Atemschutzmaske baumelt über der Stadt“ berichtet und der Cicero seine Mai-Ausgabe mit „Gruß aus Wuhan – China, Corona und der Schaden für die Welt“ betitelt, wissen asiatische gelesene Menschen und BIPoC, was als nächstes passiert – nämlich angespuckt, beleidigt, mit Desinfektionsmittel eingesprüht, vom Fahrrad geschubst werden und mehr.
Vielen ist dies nicht bewusst, andere blenden es aus. Wir bezweifeln jedoch, dass es saubere journalistische Arbeit ist, Bilder wie „die Gelbe Gefahr“, die ihren rassistischen Ursprung in der Kolonialzeit haben, ohne Kontextualisierung auf die Corona-Pandemie zu übertragen und wieder salonfähig zu machen. Gleiches gilt für Redaktionen, die mit dem Schüren von Panik und der Emotionalisierung ihrer Leser*innen darauf abzielen, ihre Auflage- und Absatzzahlen zu steigern. Ob unbewusst oder ignorant, sie handeln fahrlässig und nehmen für kapitalistischen Gewinn in Kauf, rassistische Gewalt zu verstärken.
Fremddarstellung von asiatisch gelesenen Menschen und ihre Folgen
Was vielen nicht-asiatischen Menschen vermutlich auch nicht bewusst ist: Die Fremddarstellung asiatisch gelesener Menschen hat eine lange Kontinuität, deren Auswirkungen asiatische Menschen heute noch spüren.
Nehmen wir das Beispiel „Yellow Fever“ – oder in anderen Worten: die Fetischisierung asiatischer Frauen*. Yellow Fever gründet auf dem Bild der (sexuell) unterwürfigen asiatischen Frau*, das – wer hätte es geahnt – ein weißer Schriftsteller namens Pierre Loti im Jahr 1887 als Motiv für seine Novelle „Madame Chrysanthème“ gewählt hat und das seitdem in Opern, Musicals und zahlreichen Filmen bis heute reproduziert wird. Verstärkt wurde dieses Bild durch systematische Förderung von Prostitution in süd‑, süd-ost- und ost-asiatischen Ländern zum Zweck der „Rest and Relaxation“ US-amerikanischer Soldaten während der Kriege in Japan, Korea und Vietnam. 85% der US-Soldaten gaben an, bei dieser Gelegenheit sexuellen Kontakt zu einer Prostituierten gehabt zu haben. Diese Fetischisierung wiederum spiegelt sich in den hohen Klickzahlen der rassifizierten Pornokategorie „asiatisch“ und hat negativen Einfluss auf die Lebensrealitäten asiatisch gelesener Frauen*. korientation wurde Anfang April von einer betroffenen Person über gehäufte Fälle informiert, in denen ein weißer Mann in Berlin-Kreuzberg gezielt asiatische Frauen* digital gestalked, sexuell belästigt und emotional manipuliert hat.
Im Coronakontext erleben asiatisch gelesene Frauen* in einer weiteren Dimension, wie sich rassistische und sexualisierter Gewalt in obszönen und entwürdigenden Übergriffen verquickt: Eine asiatisch gelesene Frau berichtet, dass ihr ein fremder Mann seinen Finger in den Mund gesteckt und dann lachend behauptet hat, er sei schon mit dem Virus infiziert, aber er liebe asiatische Frauen.
Model Minority Myth und anti-asiatischer Rassismus
Mit der Zuschreibung, eine „Model Minority“, also die „gut Integrierten“ zu sein, erfahren manche asiatisch gelesene Personen (v.a. die sichtbaren) im Vergleich zu anderen negativ stigmatisierten People of Color (u.a. auch weniger sichtbare asiatische* Gruppen) eine gesellschaftliche Besserbehandlung. Der Preis für diese Privilegien ist die Erfüllung und Verinnerlichung der stereotypen Rolle der „stillen Asiat*innen“ und entsprechend dankbares Verhalten. Doch diese Rechnung geht nicht auf, denn über diese vermeintlich „positive“ (vor allem aber auch paternalistische) Zuschreibung werden die verschiedenen von Rassismus negativ betroffenen Gruppen hierarchisiert und gegeneinander ausgespielt. Und der Rassismus gegen asiatisch gelesene Personen existiert trotzdem, auch wenn Betroffenen ihre Rassismuserfahrungen oft abgesprochen oder nicht ernst genommen werden.
Besonders problematisch wird es, wenn dies durch diejenigen Strukturen geschieht, deren Aufgabe es ist, Personen zu schützen, Straftaten zu verfolgen und Täter*innen zur Verantwortung zu ziehen. Das Verhalten der Polizei, die im Angriff auf das eingangs genannte koreanische Paar weder sexuelle noch rassistische Belästigung erkennen wollte, findet dabei auf der vergleichsweise noch „harmloseren“ Seite des Spektrums institutionellen Rassismus statt.
Wir möchten an dieser Stelle aber auch daran erinnern:
Dass beim mehrmals in der Presse angekündigten Pogrom in Rostock-Lichtenhagen von 1992 sowohl die Polizei als auch die Landesregierung von Mecklenburg Vorpommern rassistische Motive ignoriert, und Hilfeleistung und Strafverfolgung unterlassen haben.
Dass die Polizei bei einer Festnahme vietnamesischer Männer 1993 in Bernau und 1994 in Leipzig Racial Profiling, rassistische und sexualisierte Gewalt angewendet hat.
Und dass im Mai 2016 die chinesische Architekturstudentin Yangjie Li von einem Mann vergewaltigt und ermordet wurde, dessen Mutter zum Zeitpunkt der Tat Polizistin und dessen Stiefvater Polizeichef von Dessau waren. Letzterer half dem Täter und dessen Freundin kurze Zeit nach dem Mord beim Umzug aus der Wohnung in unmittelbarer Nähe des Tatorts. In Dessau ist 2005 auch Oury Jalloh, eine Schwarze Person, unter ungeklärten Umständen in Polizeigewahrsam verbrannt.
Was müssen wir also tun?
Rassismus gegen asiatisch gelesene Personen ist eine von vielen verschiedenen Formen des „Othering“, also der Konstruktion eines rassifizierten „Anderen“. Er findet auf unterschiedlichen strukturellen Ebenen, in unterschiedlichen Bereichen, mit unterschiedlichen geschichtlichen Kontexten und in unterschiedlichen Funktionen statt. Er ist oftmals geschlechtsspezifisch und variiert auch entlang anderer Diskriminierungskategorien. Er ist ebenso vielfältig wie die Positionierungen asiatisch gelesener Menschen in Deutschland. Der spezifisch mit der Corona-Pandemie aufflammende Rassismus richtet sich in unterschiedlichen Ausprägungen auch gegen Jüdische Menschen, Sint*ezza und Rom*nja, Schwarze Menschen und andere People of Color. Eine fehlende Positionierung bzw. Schweigen und Abwertung ihrer Rassismuserfahrungen (nicht nur im Corona-Kontext) sind Bestandteile einer Dynamik, mit der Betroffenen gezeigt wird, dass sie in der Gesellschaft keine gleichwertige Position einnehmen.
Als Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven schließen wir folgendes Fazit:
Politiker*innen, Behörden, Schulen, Polizei und Verwaltungen müssen das Thema anti-asiatischer Rassismus aufgreifen und eine klare Stellung dazu beziehen. Außenminister Heiko Maas hatte sich Anfang April zwar kritisch zu den im Coronakontext aufgetretenen Beleidigungen gegenüber Französ*innen geäußert, anti-asiatischer Rassismus scheint aber bisher kein Thema zu sein. Wenn staatliche Institutionen dazu schweigen, vermittelt dies die Botschaft, dass rassistisches Verhalten akzeptiert wird und erlaubt ist. Institutionen müssen einen Plan und Regeln entwickeln, wie mit rassistischem und diskriminierendem Verhalten umgegangen werden soll.
Alle Polizist*innen müssen verbale und körperliche Angriffe auf asiatisch gelesene Menschen ernstnehmen und ihrer Verpflichtung nachkommen, dagegen Anzeige aufzunehmen. Die Polizei muss sich sowohl intern als auch im Kontakt nach außen ernsthaft mit diesem Thema beschäftigen und sich sensibilisieren. Für die Betroffenen rassistischer Übergriffe ist es doppelt traumatisierend, wenn ihnen vermittelt wird, dass ihre Erfahrungen eine Strafverfolgung nicht wert sind.
Personen, die nicht negativ von Rassismus betroffen sind, sollen Erfahrungen asiatisch gelesener Menschen nicht in Frage stellen oder verharmlosen und jede Form von anti-asiatischem Rassismus unterlassen. Daher der Appell: Wenn Ihr rassistische Übergriffe beobachtet, zeigt Euch solidarisch und leistet Beistand. Lasst rassistisches Verhalten nicht einfach stehen oder ignoriert es. Jede Person, die sich in so einem Fall kritisch äußert, kann Vorbild für andere sein.
Medienschaffende müssen sich und ihre Redaktionen grundsätzlich und speziell im Kontext der Corona-Pandemie auf kulturalisierendes, stereotypisierendes, unsachliches oder rassistisches Framing bzw. Bild-Text-Verknüpfungen überprüfen und nachbessern. Als Hilfestellung, wie es besser gemacht werden kann, empfehlen wir Glossare und Leitfäden zum diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch. Auf der Webseite von No Hate Speech https://no-hate-speech.de/de/wissen/ ist eine Sammlung zu finden.
Und zu guter Letzt: Liebe Asiatisch-Deutsche Menschen, scheisst auf den Model Minority Mythos, er bringt Euch nichts außer ein falsches Gefühl von Anerkennung. Auch für uns und gerade in Anbetracht der nicht endenden rassistischen (Polizei-)Gewalt in den USA und hier in Deutschland vor allem gegen Schwarze Menschen ist es unumgänglich, uns selbst zu reflektieren. Im Vergleich zu anderen von Rassismus negativ Betroffenen, aber auch innerhalb und zwischen unseren Communities sind Privilegien ungleich verteilt. Lasst uns darüber sprechen, voneinander lernen, unsere eigenen verinnerlichten Rassismen verlernen, gemeinsam aufstehen und uns und andere BIPoC in ihren Kämpfen unterstützen!
Sina Schindler, korientation e.V.