MEGA goes Hannover!
Am Wochenende vom 24.–25. September fand ein Schreibwochenende in Hannover statt, das von Elnaz Farahbakhsh mit Schreibmethoden des Biografischen und Kreativen Schreibens angeleitet wurde. Der Fokus des Wochenendes lag auf Empowerment: Wir haben uns gemeinsam mit unseren eigenen Geschichten befasst und Erfahrungen und Gedanken niedergeschrieben. Dabei haben Leichtigkeit und die Lust am Schreiben nicht gefehlt!
Enstanden sind u.a. folgende Texte
Workshop
Ich schrieb die Worte.
Öffnete meine Herzenstür.
Es war viel, doch gut.
Ein Haiku von Maria Hosein
Der perfekte Raum
Der perfekte Raum zum Schreiben. Schwierig. Wenn ich ihn hätte, würde ich nicht auf der Stelle schreiben. Es geht gar nicht um den Raum.
Doch, aber nicht ausschließlich. Mein Arbeitszimmer ist eigentlich mein perfekter Raum zum Schreiben. 1 Schreibtisch. 1 Drucker. Bücher, die mich interessieren. Bücher, die mich berühren in einem Regal. In zwei circa 1‑Meter hohe Regale. Nicht so hoch. Nicht erdrückend.
Alles möglichst weiß. Möglichst neutral. Meine Malm-Kommode mit vier Schubladen voller Kunstmaterialien. Ein umfunktionierter Kleiderschrank mit zwei Bereichen voller Kunstmaterialien sowie Skizzenbücher und die Handtaschen, Taschen und Boxen in dem anderen Bereich. Gequetscht. Hauptsache die Kunstsachen sind da. Alles, was das Künstlerinnenherz begehrt. Alles, was ich mir als Kind gewünscht habe. Alles, was ich mir nicht leisten konnte.
Und dann sind die weißen Wände bedeckt mit meinen Malereien. In Rahmen. Bildaufhängesystem. Wie in einer Galerie. Meine eigene private Ausstellung. 365 Tage im Jahr. Der perfekte Raum zum Schreiben ist mein Lieblingsraum. Manchmal denke ich mir: „Ja so sieht es in meinem Kopf aus“. „The Brain“. So nannte ich diesen Raum manchmal. Ich meinte aber „My Brain“.
Ich begann mit dem Satz „Wenn ich ihn hätte, würde ich nicht auf der Stelle schreiben.“
Jetzt merke ich. Ich habe ihn. Aber ich sah ihn nicht mehr. Ich hatte ihn verloren. Aber er ist da, The Brain. My Brain. Vielleicht habe oder hatte ich ja mich verlaufen. Verloren.
Was für eine gewinnbringende Übung. Was für eine Erkenntnis.
10 Minuten Schreiben.
Den perfekten Raum fand ich in 10 Minuten Schreiben.
von Maria Hosein
Heimatlose Heimat. Verliebt.
Man sagt man verliebt sich durch Gerüche. Und ich bin verliebt. Verliebt in meine Kindheit. Verliebt in meine heimatlose Heimat. Meine Heimat, die nicht an einen Ort gebunden ist. Und zugleich an so vielen Orten und Personen. Weit weg und doch so nah. Nah dran und doch so weit.
Ich sitze in einem Raum in Hannover. In der Kornstraße. So viele Dinge auf dem Tisch. Ich schaue sie mir an, ich halte sie und leg sie zurück.
Und nun werden Gewürze rumgegeben. Verschiedene. Ich rieche sie und leg sie zurück. Beutel nach Beutel. Ein Gewürz nach dem anderen.
Und dann ist auf einmal „Ehl“ (Kardamon) da. Ich fang an zu lächeln.
„Ach, Schin Tschai/ Tschai Sabz (Grüner Tee). Schin Tschai mit Ehl. Lecker“. Koltschey scherin, Koltschey schor, Shirtschai. Wie sehr liebe ich diese Dinge? Darüber möchte ich schreiben. Und trotzdem schau ich weiter. „Sei mal nicht so langweilig! Vielleicht gibt es noch was!“
Und da sind auf einmal Nelken. Nelken. Ich war 13. Wir saßen alle zusammen. Meine Mutter, meine Oma und meine Tante. Nelken waren in Wasser eingelegt. Nelke – das Wort kannte ich damals nicht. „Lawang“, so nennen war es. Ein schöner Name. „Lawang“. Ein Wort, das wie ein Gedicht klingt. Ein Gewürz. Das wie eine Blume aussieht, denke ich mir. Meine Mutter, meine Tante und meine Oma stechen mühsam jedes Stück Lawang mit einer Nadel und mit Faden durch. Lawang für Lawang zu einer langen Kette.
Sie wird an jede Ecke des „Destmals“ (Ein Tuch, für eine Hochzeitszeremonie) angebracht, zusammen mit Perlen und Minipompons. Für die Familie des zukünftigen Bräutigams. Das Destmal soll schön riechen. 22 Jahre ist es her. Und ich hab noch die eine Kette. Ein Lawangkette, die sie mir gaben, weil ich nicht aufhörte zu fragen. 22 Jahre und Lawang lässt mich zeitreisen.
„Komm schon. Weiter. „Zeera“ (Kümmel) Es ist Zeera. Oh Gott! Ich denke sofort an Palau, an Tschalau, an Qabeli und an all das leckere Essen. Afghanisches Essen. Ich denke an meine Mutter, an meine Oma, all die Besuche bis ich realisiere. Ich bin verliebt. Verliebt in meine heimatlose Heimat. Das Essen. Die Menschen. Die Gefühle. Ich lächle. Ich denke an Zuhause. Nicht an meine Wohnung. Nicht an irgendeinen Ort. Ich denke an das Gefühl von zuhause. Ich bin verliebt in mein Zuhause.
Bild und Text von Maria Hosein
Wort und Raum
Ich lese Weiße Worte auf den Weißen Seiten,
in meinen Büchern, die auch meistens weiß erscheinen.
Zwischen dicht gedrängtem Weiß bleib ich unsichtbar
auf weißen Seiten, die eigentlich nur Weiße meinen.
Die uniforme Einheit zwischen Wort und Räumen,
Wie Weiße Mauern, die sich himmelhoch aufbäumen
vor unsren Worten, hält uns fern und hält verborgen,
Wo wir täglich kämpfen, wovon wir nächtlich träumen.
Weiße Mauern umzingeln mich im weißem Raum
wie weißes Rauschen durchdringt sie oft nur leises Raunen.
Denn wenn wir alle einzeln eingemauert bleiben,
Hören wir durch weiße Mauern unsre Worte kaum.
Weißes Rauschen und ein weißer Nebel, der uns umgibt,
Zeichnen alles weiß, was sich im Inneren verbirgt
Zwar wirft Nebel Schleier vor die Sicht, doch wenn es
Nur genügend stürmt, hat er sein Dasein auch verwirkt.
Wenn wir dann Seiten selbst beschreiben mit Geschichten,
Die mehr als bloß geweißeltes ans Licht bringen,
Lichtet sich der Weiße Nebel immer um ein Stück.
Denn Räume können wir auch mauerlos errichten.
Denn die Sache mit den Mauern und dem Rauschen,
Ist, wenn wir lauter werden und dazwischen Lauschen,
Wir doch viele sind in den Mauern weißer Worte,
Wir sie stürzen können, indem wir uns austauschen.
Platzieren wir im Weiß öfter auch mal Störmomente,
Weil das Weiß durch das weiße Wohlfühlambiente,
Letztlich lebt, nur die Störung es vielleicht ein mal bewegt,
bereiten wir dem seichten Weiß in Weiß ein Ende.
Von Hoa-Lan Gutschke
Die Überheblichkeit der Lebkuchen
Lebkuchengewürz – Da gehören Nelken hin. Ein mal im Jahr feiern sie hier ihren großen Auftritt. Ein mal im Jahr wird aus der vergessenen Ecke des Gewürzregales das fast unberührte Glas hervorgeholt, nur damit es im Januar wieder artig seinen Platz in der hintersten Reihe einnimmt. Um mich herum stapeln sich Backwaren, die in den Supermärkten schon am Sterbebett des Sommers lauern: Zu ungeduldig um die letzten Atemzüge noch abzuwarten, zu wichtig das allgegenwärtige Konsumangebot von Zuckerwaren aufrechtzuerhalten.
Jetzt mit Gewürz.
Plätzchen und Lebkuchen widern mich an, wie sie mit ihrer Selbstgefälligkeit
und Selbstverständlichkeit die Regale besetzen und einzige Fürsprecher der
Nelken sein wollen.
An den Geschmack von Phở erinnere ich mich noch, doch es muss jetzt schon
ein Jahrzehnt her sein. Eine feinkantige Blüte, leicht und harmlos in meiner
Hand. Acht oder zehn?
Ich weiß nicht mehr wie viele, nur waren es wohl definitiv zu viele. Diese
kleinen unscheinbaren Dinger entfalten ihre Wirkmacht und überrollen alles,
was da mal nach Suppe schmeckte.
Bitter. Grauenvoll. Meine erste Phở.
Dabei sollte ich es doch können.
Dabei sehe ich doch aus, als sollte ich es können.
Wer bin ich dann?
Plätzchen und Lebkuchen?
Bild und Text von Hoa-Lan Gutschke
Exit through a stanger’s car
I wanted to disappear – so I opened the door to a stranger‚s car”*
Ich ließ mich in die Sitze der Rückbank fallen, unendlich erschöpft und
unberührt von der Ratlosigkeit der Person auf dem Sitz vor mir.
Nur irgendetwas Anderes hier fühlen als das Altbekannte, die Erschöpfung der
ständigen Rücksichtnahme.
Stören – Störgefühle auch für andere und nicht nur für mich.
Dass es nun ganz unverhofft diesen Menschen trifft, der an einem grauen
Dienstagmorgen an der Ampel mal wieder die Grünphase verpasst hat, sollte
nicht mein Problem sein. Menschen werden halt vor Probleme gestellt, um die
sie nicht gebeten haben.
“Es kommt einzig auf dein Verhalten an, um deinen Umgang mit diesen
sogenannten Problemen”.
Dem Gesichtsausdruck meines Schräg-Gegenübers zu urteilen, scheint es
nicht allzu vertraut mit derart grenzüberschreitenden Verhalten zu sein. “Na,
da einfach so mit offenen Mund rumzusitzen nenn ich mal Umgang und
Lösungsstrategie.” Es folgen Sekunden, eine Minute ohne Worte. Bis ich selbst
ratlos werde. Mir schaut Hilfslosigkeit entgegen und da setzt sie auch schon
ein: meine wohltrainierte Umsicht, meine immer verlangte Höflichkeit.
Ich rutsche ungelenk mit einem für die Situation zu lauten Quietschen an den
Griff der Autotür heran. Ich öffne die Tür und verlasse wortlos mit verlegenem
Blick den Wagen. Die Ampel schaltet grün.
Zurück bleiben ein paar Tropen Dienstagmorgenregen auf dem Leder der
Rückbank.
*Ocean Vuong
Von Hoa-Lan Gutschke
Raum zum Schreiben
Fände ich den Raum in mir, in meinem Kopf, zum Schreiben,
fände ich wohl auch den Raum zum Denken über die Frage, wie
dieser Raum in Gestalt aussähe. Ich würde beginnen bei einer
Tür ‚die alle vermeintlichen Pflichten aussperrt, all die Stimmen
von außen und auch von innen, die zu oft sagen, dass meine
Worte nicht so bedeutungsvoll sind. Diese Tür würde auch
den Schmerz ausschließen, der meine Hand manchmal lähmt,
wenn die Geschichten wieder fast zu wahr zum Ertragen ist.
Wenn ich mich sicher hinter dieser Tür wüsste, dann wäre mein
Raum lichtdurchflutet und der Boden würde den satten Duft
von frischem Gras in die Luft des ganzen Raumes legen. Meine
Füße würden barfuß laufen und könnten die einzelnen Halme
nicht mehr auseinander halten, die in ihrer Dichte einem kühlen
Teppich gleichen. Dort stünde auch ein Sofa oder vielleicht noch
mehr ein Bett, denn manchmal schreibt es sich in der tröstenden
Wärme einer Bettdecke am besten. Das Geräusch vom Wind, der
durch das Blätterdach des Sommers streicht, tanzt durch die Luft.
Hinter meiner schützenden Tür vernähme ich noch ab und zu,
die Anwesenheit meiner liebsten Menschen, mal ein Lachen, mal
Wortfetzen und ein wenig Gesang, aber immer ein Zeichen, dass
es auch ihnen gut geht.
In meinem Raum spielt leise Musik zum Rauschen des Windes,
die mir zu beiläufig erscheint, um ihr länger Aufmerksamkeit zu
widmen.
Von Hoa-Lan Gutschke
Wattewelt
Schon viertel vor elf. Vor einer Viertelstunde wollte ich das Haus verlassen
haben. Die Türklinke legt sich kühl in meine Handfläche. Mein Körper wendet
sich zum Treppenhaus.
Verdammt, ich wollte noch meine Wasserflasche auffüllen.
Kann ich dort auch machen.
Vielleicht schmeckt das Wasser dort aber nicht.
Lieber sichergehen. Auf eine Minute kommt es auch nicht an. Vier Stockwerke
nach unten, aber immerhin geht es nach unten. Ich gehe in den Hof und
bin mir nicht ganz sicher, wo ich mein Fahrrad abgestellt habe. Aber da
ist es. Anscheinend war ich gestern noch motiviert genug und habe es
ordnungsgemäß im Fahrradschuppen verstaut.
Im nächsten Moment hieve ich mein schweres Hollandrad durch das
Treppenhausund durch die Eingangstür. Aufsteigen. Es ist 10 Uhr 52. Ein paar
Minuten später ist nicht so schlimm. Die Welt ist verschwommen. Es liegen
gerade zehn Meter hinter mir. Alles wie in Watte. Ich habe vergessen meine
Kontaktlinsen einzusetzen. Jetzt fällt es mir ein. Ich drehe nicht um. Muss ich
heute sehen können? Ich entscheide mich für nein.
Von Hoa-Lan Gutschke
Vielen Dank an Elnaz und alle Teilnehmender*innen für das gegenseitige Empowern, Geschichten miteinander teilen und den Spaß am Schreiben!
Workshopleitung
Elnaz ist ein*e queere Person of Colour, ist Autor*in, Dichter*in und Aktivist*in. Im Schreiben beschäftigt sich Elnaz mit den Themen Familie, Ancestors, Spiritualität, Flucht, Healing und mental Health. Elnaz hat den Master „Biografisches und Kreatives Schreiben“ an der Alice Salomon Hochschule in Berlin studiert, gibt Schreibworkshops und macht Bildungsarbeit zu intersektionalen Themen. Außerdem praktiziert Elnaz Reiki und gibt Healing Sessions.
Insta: @elnaz.farahbakhsh_
Diese Veranstaltung wird im Rahmen des Modellprojekts MEGA durchgeführt. MEGA wird durch das BMFSFJ im Rahmen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ und durch die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales von Berlin im Rahmen des Partizipations- und Integrationsprogramms gefördert.