von Kimiko Suda
I desire a new language of belonging. A who-are-you space to gather with others, rather than the biological ‛what’ am I. This new language finds the political in the personal, and it requires me to ask who am I in the face of any new race-making that might be taking place. Who in me is the slave, who the plantation owner, who the indentured labourer, the bounty keeper, who the collaborator, who the perpetrator, who the victim? Who am I othering, as I write, as I speak, as I travel, as I shop? What borders am I erecting, who am I when I don´t feel I have enough? (McWatts 2019: 233)
Im deutschen Kontext sind DNA-Testkits für den Privatgebrauch bisher im Vergleich zum angloamerikanischen Kontext noch nicht so populär. Die Gründe dafür sind nur zu vermuten, sei es die NS-Vergangenheit, die ein negatives deutsches Verhältnis zu Humangenetik per se geschaffen hat, oder auch die vorherrschende unkritische Zufriedenheit mit einer konstruierten und unhinterfragten weißen deutschen Identität bei der Mehrheit der Deutschen. In ihrem essayistischen Band Shame On Me. A memoir of race and belonging zeichnet die kanadische Autorin Tessa McWatt den Weg einer emotionalen Selbstfindung und kritisch-intellektuellen Selbstpositionierung nach, der mit den Ergebnissen von zwei DNA-Tests und einem Einfordern einer politisch-solidarischen Haltung zum aktuellen Weltgeschehen, endet. Sie beschreibt den Prozess von der Internalisierung von rassistischen „Othering“-Begegnungen („What are you?“), und einer schwierigen Rollenzuweisung in ihrer Familie (Ersatz für einen früh verstorbenen Bruder), hin zu Suchbewegungen außerhalb von ethnischen Kategorien. Sie offenbart einen Reflexionsprozess, in dem sie sich unabhängiger macht von Eindeutigkeit und von der Anerkennung anderer. Sie hadert mit der Verinnerlichung eines weißen kanadischen Mittelschichtshabitus und damit einhergehenden Ideen von Erfolg und sozialer Mobilität und sieht gleichzeitig die daraus für ihren Lebensweg entstandenen Privilegien.
Anhand ihrer Familiengeschichte, sie wurde 1959 in Georgetown, Guayana geboren, werden die hierarchischen Verflechtungen unterschiedlicher rassifizierter Gruppen der damaligen britischen Kolonie dargestellt, und daraus wird die Vielschichtigkeit ihrer eigenen Identität abgeleitet. Für den Anbau von Zuckerrohr wurden versklavte Arbeiter*innen aus Afrika, verarmte Arbeiter*innen (indentured workers) aus Indien, Südchina und Portugal nach Guayana gebracht und mussten auf den Plantagen schuften. Den White Frame der anglophonen Gesellschaften bezeichnet sie daher auch als Plantagen-Setting[1], aus dem es kaum möglich ist auszubrechen, da sich postkoloniale Kontinuitäten durch alle gesellschaftlichen Strukturen und Interaktionen ziehen. Die Titel der einzelnen Kapitel des Bands sind im Sinne der Idee von embodied knowledge einerseits und Kritik an der Desubjektivierung von Menschen durch rassistische Zuschreibungen andererseits, aufgeteilt: die Einleitung lautet „What are you?“ und enthält als Einstieg kurze Vignetten der (zum Teil vermuteten) Schicksale ihrer Vorfahrinnen, gefolgt von den Kapiteln „Nase“, „Lippen“, „Augen“, „Haare“, „Arsch“, „Knochen“, „Haut“ und „Blut“. Das Abschlusskapitel lautet „Double Helix“[2] und enthält neben den DNA-Testergebnissen ein Plädoyer gegen die Absurdität von Rassifizierung.
Tessa McWatts Ururgroßvater väterlicherseits, dem sie ihren schottischen Familiennamen verdankt, war ihrer Vermutung nach ein Plantagenaufseher, eine Repräsentationsfigur von weißer Macht im kolonialenbritischen Governance-Régime. Ihre Ururgroßmutter wurde versklavt und vom afrikanischen Kontinent nach Guayana gebracht, und die Autorin unterstreicht kontinuierlich ihre Fragezeichen hinsichtlich der Freiwilligkeit der sexuellen Beziehung zwischen dem Aufseher und ihr. Sie führt dabei die historischen Aufzeichnungen eines Kolonialbeamten an, der mit lateinischen Abkürzungen die Inhalte von hunderten seiner „Dates“ mit versklavten Frauen dokumentierte und bewertete. Mit dieser Dokumentation als Referenz verweist sie auf die Normalität von sexueller und rassifizierter Gewalt in den kolonialen Plantagengesellschaften. Die Großmutter mütterlicherseits der Autorin hatte chinesische Vorfahr*innen und auch ihr ist sexuelle Gewalt widerfahren, laut einer Erzählung der Mutter der Autorin. Unterschiedliche Familienmitglieder hatten aufgrund unterschiedlicher Hautfarben und sozialer Klassen, unterschiedliche Zugangschancen zu Arbeitsplätzen in der Kolonie. Familienfotos visualisieren die beschriebenen „ethnisch gemischten“ Familienkonstellationen. Der Vater der Autorin kam aus armen Verhältnissen, schaffte es aber Geld zu sparen und Veterinärmedizin in Kanada zu studieren. Als die Lage aufgrund von rassistischen Pogromen in Guayana zunehmend angespannter wurde, folgte die Autorin im Alter von drei Jahren mit ihrer Schwester, Mutter und Großmutter ihrem Vater nach Kanada. Ihr Großvater konnte erst Jahre später in einer psychisch fragilen Verfassung nachgeholt werden, er konnte nicht mehr sprechen und war nur noch ein Geist seiner selbst.
Herausragend an dem Buch ist die Multidimensionalität der Verortung und Reflexion der Autorin. Sie spricht in einem Atemzug über rassistische Fremdzuschreibungen und Selbstethnisierung, bzw. ihre eigene unbewusste Ethnisierung von Familienmitgliedern bei ihrer Suche nach einem Ort der Zugehörigkeit. Sie verfolgt den postkolonialen Nachhall der Identitäten ihrer Familienmitglieder im kolonialen Britisch Guayana bis in die Gegenwart und in ihren Lebensalltag in Kanada, später in London und auch auf ihren Reisen in die Karibik, nach Südamerika, Afrika und Asien. Je nach Situation und Kontext, wird sie als lokal, „fremd“, als weiß, Asiatisch oder Schwarz gelesen, und sie reflektiert dann über den jeweiligen Marginalisierungs- bzw. Privilegierungseffekt, der daraus resultiert. Sie nimmt die rassistischen Diskurse und deren Auswirkungen auf sie selbst und die Körper rassifizierter Frauen per se als Beispiel und zeigt dabei deren Exotisierung, Hypersexualisierung und Objektivierung und ihre eigene Vulnerabilität in dieser Hinsicht, auf.
Mit persönlichen Beispielen, beispielsweise hinsichtlich ihrer Auswahl an Männern, die sie für ihre Liebesbeziehungen im Verlauf ihres Lebens ausgewählt hat, zeigt sie einen Prozess auf, in dem sie sich von einer Orientierung am weißen Status Quo, über die Suche nach einer Schwarzen Identität über eine Beziehung zu einer Person, die fest in einer Schwarzen Community zuhause ist, hin zu einer Psychoanalyse bewegt. Mit dieser Analyse schafft sie es, von einer Selbstverortung als nicht ausreichendem „Ersatz für den verstorbenen Bruder“ und einem „Mangel“ an Identität wegzukommen. Für ihre psychoanalytische Perspektive denkt sie mit Fanon, aber auch Jung und Freud, und stellt die gängigen Kategorien von „hell“ und „dunkel“ in der Psychoanalyse einerseits in Frage und verweist auf die Notwendigkeit zum Teil mit gegebenen Konzepten zu arbeiten.
Ein anderes wiederkehrendes Thema, ist die Frage nach dem Versuch sich trotz rassistischer Gesellschaftsstrukturen oder gerade aufgrund der Entbehrungen, die ihr Vater für sie durch die Migration nach Kanada auf sich genommen hat, mehr zu leisten und zu schaffen als der Durchschnitt. Sie vergleicht dabei ihren Lebenslauf mit dem ihrer Geschwister, ihr Bruder ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und ihre Schwester ist Richterin geworden. Dann schaut sie auf die nächste Generation, die leiblichen und adoptierten Kinder ihrer Geschwister, um im Verlauf der Zeit nachzuvollziehen, welche Rolle phänotypische Aspekte für rassistische Zuschreibungen und soziale Hierarchien spielen. Ihre Analysen sind immer historisch verankert und intersektionell, machtkritisch und mit Referenzen versehen und daher in der Verbindung von größeren Diskursen und Analysen mit individuellen Beobachtungen und Erlebnissen überzeugend.
Im Vergleich, beispielsweise zu Ocean Vuongs[3] autobiographischem Roman On Earth We’re Briefly Gorgeous. A Novel, der im gleichen Jahr, 2019, erschienen ist, ist in Tessa McWatts Band die Sicherheit der gebildeten Mittelschichtsfamilie als Ausgangspunkt zu spüren, die ökonomische Stabilität, die Rassifizierungseffekte punktuell abfedern kann. Sie ist (zumindest in den in dieser Hinsicht relevanten beschriebenen Situationen) heterosexuell und es bleibt ihr daher eine Ebene der Diskriminierung und Identitätssuche erspart, die für Vuongs queeren Protagonisten mit im Zentrum steht. Sie berichtet über sprachliche und „epistemische Gewalt“ in ihrem Lebensumfeld seit ihrer Kindheit, aber nicht über unmittelbare physische, wie sie für Ocean Vuong präsent ist. Die Vergewaltigungen ihrer Ururgroßmutter väterlicherseits und Großmutter mütterlicherseits, die zu Beginn als Vignette erwähnt werden, tauchen im Verlauf des Bands immer wieder auf und werfen einen unübersehbaren Schatten aus der Vergangenheit; gleichzeitig findet jedoch auch eine intergenerationelle Kommunikation zwischen Großmutter und Enkelin, Mutter und Tochter statt, die auch wie ein Heilungsprozess gesehen werden kann im Vergleich zu Ocean Vuongs Sprachlosigkeit gegenüber seiner Mutter und Großmutter zu deren Lebzeiten. Auch Ocean Vuong denkt über die rassifizierten und geschlechtsspezifischen Gewaltdynamiken nach, mit der weiße DNA über einen US-amerikanischen Soldaten in seine Familiengeschichte gekommen ist. Seine Großmutter war in Vietnam gezwungen, als Sexarbeiterin ihren Lebensunterhalt zu bestreiten und ist in dem Kontext schwanger geworden.
Für den Vergleich zwischen Tessa McWatts und Ocean Vuongs autobiographischen Zugängen ist dann auch die Generationenfrage und eine unterschiedliche Distanz zu bestimmten Lebensphasen mitzudenken. Während Ocean Vuongs 1988 in Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam geboren wurde, und seine Jugend noch nicht so lange her ist, und er die Atmosphäre der Erlebnisse dieser Zeit auf emotional eindrückliche und oftmals beklemmende Art aus der Perspektive einer Romanfigur beschreibt, hat Tessa McWatt bereits eine psychoanalytisch reflektierte intellektuelle Distanz zu vielen erlebten Situationen im längeren Verlauf ihres Lebens für sich hergestellt. Dementsprechend sind die einzelnen Situationen beispielsweise von Diskriminierung als eine bereits verarbeitete und somit abgeschlossene Angelegenheit beschrieben und es ist ihr vermutlich leicht gefallen aus der unmittelbaren Ich-Perspektive zu schreiben. Ocean Vuong und Tessa Watt teilen das bewusste Abschütteln von Scham über ihre Herkunft und ihre Identitäten außerhalb von weißen Mittelschichtsnormen. Sie teilen auch das Gefühl der Notwendigkeit der konsequenten und kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Identität angesichts der Sterblichkeit ihrer Mütter, mit deren (drohendem) Tod einerseits Wissen insbesondere über familiäre Migrationsgeschichte(n) und Ereignisse vor der Migration, und vor allem sie selbst als emotionales Gegenüber, zu verschwinden drohen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Shame On Me ist eine politische Reflexionsanleitung über Marginalisierung, Privilegien und das emotionale und intellektuelle Abschütteln von jeglichen Rassifizierungskategorien.
Tessa McWatt (2021): Shame On Me. A memoir of race and belonging, Scribe Publications: London, 260 Seiten, ISBN-13: 9781913348229; ISBN-10: 1913348229
[1] Im deutschen Kontext ist 2008 das Buch Plantation Memories. Episodes of Everyday Racism – Kurzgeschichten in englischer Sprache von Grada Kilomba, erschienen, in dem sie auch das „Plantagen-Setting“ aufgreift, um auf strukturellen Rassismus und dessen Erscheinungsformen und Reproduktion im Alltag zu verweisen.
[2] Double Helix ist die Beschreibung der Struktur eines DNA-Molekuls.
[3] Sein vietnamesischer Name lautet Vương Quốc Vinh.