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kori­en­tation unter­stützt das Bündnis Gedenken an das Pogrom. Lichtenhagen 1992., das das Gedenken anlässlich des 30. Jahrestages orga­ni­siert hat. Die zen­trale Veranstaltung war die bun­des­weite Demo am 27.08.2022 in Rostock-Lichtenhagen, siehe Aufruf zur Demo.

Wir ver­öf­fent­lichen mehrere Redebeiträge auf unserer Webseite zur Dokumentation. Es folgt der Redebeitrag der Gedenkinitiative Phan Văn Toàn in Fredersdorf bei Berlin (https://phanvantoan.de), mit der wir kooperieren. 

Im Gedenken an Phan Văn Toàn.

Es ist der 31. Januar 1997, die Temperatur in Fredersdorf aus­serhalb von Berlin liegt um den Gefrierpunkt. Um den Lebensunterhalt seiner Familie zu sichern, steht der 42-jährige Phan Văn Toàn auch in der Kälte draussen und ver­kauft Zigaretten.

Mit dem Ende der DDR waren viele ehe­malige Vertragsarbeiter_innen in ihrer Existenz bedroht.
In der von der CDU und rechten Medien geschürten, ras­sis­ti­schen und natio­na­lis­ti­schen Stimmung der 1990er Jahre, waren sie nicht nur ständig der Gefahr staatlich legi­ti­mierter Gewalt aus­ge­setzt, sondern auch öko­no­misch kom­plett auf sich allein gestellt.

Die Arbeit, die Phan Văn Toàn ver­richtete, war ille­ga­li­siert und stän­digen Anfeindungen aus­ge­setzt. Gleichzeitig wurde sie viel und gerne in Anspruch genommen. Auch von den­je­nigen, die ihn dafür anfein­deten – auch von Rassist_innen – auch von Nazis.

Die perfide Verschränkung der Ausbeutung von – und Hetze gegen ille­ga­li­sierte Arbeit hat System.

Noch heute ist sie ein Grundstein bun­des­deut­scher Wirtschaftspolitik. Arbeiter_innen in solchen Bereichen tragen ein hohes Risiko zu Opfern von Gewalt zu werden, weil Menschenfeinde ihre schwierige Lage erkennen und ausnutzen.

So geschah es auch Phan Văn Toàn. Die Nazis, welche am S‑Bahnhof Fredersdorf eine Fahrradaufbewahrung betrieben, klauten wieder einmal Zigaretten aus seinem Lager. Als Phan Văn Toàn not­ge­drungen das Gespräch sucht, wird er von zwei der Nazis lebens­ge­fährlich ver­letzt. Drei Monate kämpft er im Krankenhaus um sein Leben und stirbt am 30. April 1997 an den Folgen des Angriffs.

Trotz ras­sis­ti­scher Parolen im Gerichtssaal will das Landgericht Frankfurt (Oder) später keinen ideo­lo­gi­schen Hintergrund der Tat sehen. Stattdessen wird die Darstellung der Täter in das Urteil über­nommen. Nicht Habgier und Rassismus stehen im Fokus der Verhandlung, sondern die ille­ga­li­sierte Arbeit von Phan Văn Toàn. Einige Jahre später wird die­selbe Kammer auch beim Mord am Punk Enrico Schreiber kein poli­ti­sches Motiv bei den neo­na­zis­ti­schen Tätern erkennen.

Das besondere Verständnis der deut­schen Justiz für Neonazis hat lange Tradition.

Mehr als 20 Jahre nach dem Mord gibt es seitens der Kommune noch immer kein Gedenken an Phan Văn Toàn. Keine Unterstützung für seine Hinterbliebenen. Kein Wort der Verantwortung, des Bedauerns, Nichts. Im Gegenteil: Als im Januar 2020 erstmals Initiativen mit einer Kundgebung daran erinnern, drückt der CDU-Bürgermeister offensiv sein Missfallen aus. Nach der Kundgebung wird der pro­vi­so­risch errichtete Gedenkort zerstört.

Der Mord an Phan Văn Toàn ist nun 25 Jahre her. Das Pogrom von Rostock Lichtenhagen 30 Jahre.
Die bür­ger­liche Geschichtsschreibung möchte beides gerne ver­gessen. Weil wir sie nicht lassen, wird ver­sucht „Erinnern“ zu einer Gruselgeschichte über längst ver­gangene Tage zu machen.

Ihr Erinnern heißt Vergessen.

Auch das ist deutsche Tradition. Der Nationalsozialismus wird zu einer Verführungsgeschichte umge­deutet, Lichtenhagen zum Mysterium und die vielen ras­sis­ti­schen Morde zu Einzelfällen ver­klärt. Jedes schreck­liche Mal auf’s Neue tut man über­rascht, dass Rassist_innen morden.

Diese wider­liche Heuchelei können die sich sonst wohin stecken.

Wer selbst ras­sis­tisch hetzt, Nazis zu „besorgten Bürgern“ adelt oder die Augen vor der ras­sis­ti­schen Tyrannei deut­scher Institutionen ver­schließt, ist selbst Teil des Problems und trägt Mitverantwortung für die Gewalt.

Unser Erinnern heißt Verändern.

Als Gedenkinitiative setzen wir uns dafür ein, Phan Văn Toàn wür­devoll zu gedenken.
Damit sind wir in der Pflicht ras­sis­tische Gewalt in all ihren Formen – durch Schläge, Zeitungsartikel oder Gesetze – zu benennen. Auch die Parallelen und Verbindungen von klas­sis­ti­scher und ras­sis­ti­scher Gewalt müssen benannt werden.

Die deutsche Tradition brechen.
Fredersdorf ist auch bei dir im Ort.
Phan Văn Toàn ist nicht vergessen.

AllgemeinBlog

von Kimiko Suda

Sich kol­lektiv und öffentlich an ein gesell­schaft­liches Ereignis wie einen ras­sis­ti­schen Angriff oder Anschlag zu erinnern, bedeutet immer, auch als eine soziale Gruppe poli­tisch Stellung zu beziehen und einen Platz in der Gesellschaft für die Repräsentation eigener Perspektiven auf die sozialen Verhältnisse der Gegenwart ein­zu­fordern. In den letzten Jahren for­miert sich in Deutschland ein zunehmend brei­terer öffentlich-medialer Diskurs über post­mi­gran­tische[1] Erinnerungskultur. Dieser Diskurs umfasst eine Aufarbeitung der deut­schen Kolonialpolitik und ihrer Nachwirkungen[2], der his­to­ri­schen und aktu­ellen Auswirkungen des Nazi-Regimes auf BPoC[3], der staat­lichen Anwerbe- und Migrationspolitik in Westdeutschland ab Ende der 1950er (Lee 2021; Kataoka et al 2012; Choi/Berner 2006; Goel 2013) und in Ostdeutschland ab den 1980ern (Dennis 2017), aber auch spe­zi­fisch der soge­nannten „Baseballschlägerjahre“[4] der Nachwendezeit (Weiss 2017). Die Aufarbeitung erfolgt dabei oftmals explizit aus einer rassismus- und macht­kri­ti­schen Perspektive, d.h. es wird struk­tu­reller Rassismus ana­ly­siert und kon­tex­tua­li­siert sowie bewusst die Handlungsmacht und Subjektivität der Betroffenen von ras­sis­ti­scher Gewalt berück­sichtigt. Am Vorantreiben dieses Diskurses sind Aktivist*innen aus (post)migrantischen, post­ko­lo­nialen, anti­ras­sis­ti­schen und anti­fa­schis­ti­schen Initiativen und Beratungsstellen, ein­zelne Mitarbeiter*innen und Projekte von Bildungsinstitutionen wie Stiftungen, Museen[5] und Universitäten[6], sowie weitere enga­gierte Einzelpersonen wie Rechtsanwält*innen und Künstler*innen[7] beteiligt.

Wichtiger Teil dieses Diskurses ist eine öffent­liche Auseinandersetzung mit der poli­ti­schen Verantwortung, weitere Gewalt gegen ras­si­fi­zierte und mar­gi­na­li­sierte soziale Gruppen in Deutschland zu ver­hindern – im deut­schen Kontext spe­zi­fisch auch vor dem his­to­ri­schen Hintergrund des Nazi-Regimes. Weiter geht es um die detail­lierte Aufarbeitung und Dokumentation der Ereignisse, sowie das Einfordern und Etablieren eines wür­de­vollen Gedenkens für die Ermordeten, um ein Vergessen dieser Menschen und ihrer Schicksale in Deutschland zu ver­hindern. Alle drei Aspekte wurden in vielen Fällen ras­sis­ti­scher Morde auf der insti­tu­tio­nellen Ebene grob ver­nach­lässigt oder voll­ständig negiert, daher ist die Arbeit dieser zivil­ge­sell­schaft­lichen Akteur*innen uner­setzlich. Sie ist uner­setzlich, um poli­ti­schen Druck zu erzeugen, den Ermordeten und ihren Hinterbliebenen zu sozialer Gerechtigkeit zu ver­helfen und eben um jene kol­lektive soziale Verantwortung zu gene­rieren, keine wei­teren ras­sis­ti­schen Taten geschehen zu lassen.

Noch bevor die rechte und ras­sis­tische Gewalt der „Baseballschlägerjahre“ auch in den öffentlich-rechtlichen Medien stärker und kri­ti­scher the­ma­ti­siert wurde, haben seit den 1990er Jahren unter­schied­liche Initiativen bei­spiels­weise in Mölln[8], Rostock-Lichtenhagen[9], Hoyerswerda[10] und Lübeck[11] jah­relang mühevoll für die öffent­liche Anerkennung ras­sis­ti­scher Morde, eine Entschädigung der Opfer und Hinterbliebenen und ein wür­de­volles Gedenken für die Ermordeten gekämpft. Neben den Aktionen weißer deut­scher Antifas, deren Arbeit als Teil sozialer Bewegungen in Deutschland relativ gut doku­men­tiert wurde (Jänicke/Paul-Siewert 2017; Langer 2016), bestand auch weit weniger doku­men­tierter prak­ti­scher (post)migrantischer Widerstand gegen rechte Gewalt. 1989 gründete sich bei­spiels­weise die mehr­heitlich Türkisch-Kurdisch Deutsche Antifa Gençlik in Berlin, um sich gegen Übergriffe von Neonazis im öffent­lichen Raum orga­ni­siert zu wehren. Sie ver­öf­fent­lichten eine Zeitschrift und Flugblätter, in denen sie Rassismuskritik auch mit Kapitalismuskritik ver­banden, und dabei auf die Teile-und-Herrsche-Strategie der deut­schen Regierung in Hinsicht auf „deutsche“ und „aus­län­dische“ Arbeitende ver­wiesen (ak wantok 2014). Sie sind Vorbild für die aktu­ellen Cross-Community-Migrantifa-Formationen in Deutschland.[12] Beeindruckend ist auch der Mut von Nguyen Dinh Khoi, einem ehe­ma­ligen Vertragsarbeiter, der sich gegen rechte Übergriffe gewehrt hat, wie er in „Die Wendegeneration und rechte Gewalt. Baseballschlägerjahre“ (RBB Dokureihe von 2020) erzählt.[13] Wichtige Zeitzeugnisse zur Wendezeit aus BPOC-Perspektive sind darüber hinaus die Filme„Durvalar – Mauern – Walls“[14] von Can Candan und „die Mauer ist uns auf den Kopf gefallen“[15] von Diane Izabiliza.

Weitere Cross-Community-Initiativen zum Gedenken an ras­sis­tische Morde auch vor und nach der Wendezeit sind die Initiative DU 26. August 1984[16], die Gedenkinitiativen für Burak Bektaş [17] und Oury Jalloh[18], die Initiative 12. August[19] und die Initiative Halskestrasse[20]. Die Initiativen, die nach den Anschlägen jün­geren Datums, den NSU-Morden[21] an unter­schied­lichen Orten der Bundesrepublik, Halle[22] und Hanau[23], ihre Arbeit auf­nahmen, hatten demnach bereits „Vorbilder“ für ihre Arbeit im trau­rigen Sinne. Trotz der Arbeit, die bereits seit drei Jahrzehnten im Bereich der Aufarbeitung und wider­stän­digen Gedenkkultur gemacht wird[24], muss jeder Kampf und jede Auseinandersetzung lokal fast wieder von Neuem begonnen werden. Es fehlt die Bereitschaft in der Politik und all­gemein in der deut­schen Gesellschaft, Verantwortung für ver­gangene ras­sis­tische Gewalttaten, aber auch die Gegenwart zu über­nehmen. Die Gründe dafür liegen unter anderem an der Kontinuität von „Othering“, d.h. die Ermordeten werden wei­terhin als „die Anderen“ begriffen, als „Fremde“, als „Nicht-weiße“ und nicht zur gesell­schaft­lichen „Mitte“ zuge­hörig, und somit auch einer tie­fer­ge­henden Aufarbeitung und eines Gedenkens nicht wert. Ein ver­ant­wor­tungs­volles Gedenken umfasst auch die Frage nach dem „Wegschauen“ und der Mitschuldigkeit hin­sichtlich ras­sis­ti­scher Gewalt im öffent­lichen Raum, die extrem unbequem ist. Die Mitglieder der Gedenkinitiativen, die eine solche Auseinandersetzung ein­fordern, werden dann auch oftmals von ein­zelnen lokalen Politiker*innen und Anwohner*innen als „Nestbeschmutzer*innen“ und als „Unruhestifter*innen“ beschimpft, um sie mundtot zu machen und eine Mitschuld an den Geschehen der Vergangenheit und eine Verantwortung für die Gegenwart von sich zu weisen.

Das aktuelle Beispiel der Gedenkinitiative Phan Văn Toàn

Nach der Erschießung von acht Menschen, dar­unter sechs asia­ti­schen Frauen, im US-amerikanischen Atlanta durch einen weißen christ­lichen Fundamentalisten am 16. März 2021[25] demons­trierten circa 300 vor allem junge Asiatische Deutsche, Mitglieder von kori­en­tation, des Berlin Asian Film Network (BAFNET), von Deutsche Asiat*innen Make Noise (DAMN*) und soli­da­rische Einzelpersonen, im Zentrum Berlins[26]. Sie gedachten der Ermordeten und for­derten öffentlich, dass anti-asiatischer Rassismus geächtet werden müsse. Damit einher ging ein öffent­licher Brief gegen anti-asiatischen Rassismus, der im März und April 2021 von 1216 Personen und Organisationen unter­schrieben wurde.[27] Es wurde also eine relativ große Öffentlichkeit zu diesem Thema erzeugt. Vor dem Hintergrund der deut­lichen Zunahme an Übergriffen auf asiatisch-gelesene Personen in Deutschland im Jahr 2020 im Kontext der medialen Kulturalisierung und Rassifizierung des Corona-Virus[28] war diese Form der kol­lek­tiven Repräsentation ein wich­tiges Signal des Zusammenhalts nach innen in die Asiatisch-Deutschen Communities, aber auch nach außen hin­sichtlich einer kol­lek­tiven Mobilisierbarkeit von Asiatischen Deutschen für poli­ti­schen Protest im öffent­lichen Raum.

Gleichzeitig ist die Geschichte der Asiatisch-Deutschen Communities jedoch in staat­lichen Bildungsinstitutionen wie Schulen, Universitäten und Museen – von der Unsichtbarkeit ras­sis­ti­scher Morde abge­sehen – ins­gesamt ver­gleichs­weise wei­terhin unter­re­prä­sen­tiert, auch wenn Formierungsprozesse, wie zu Anfang dieses Textes beschrieben, fest­zu­stellen sind. Weiterhin ist von einer großen Dunkelziffer hin­sichtlich ras­sis­ti­scher Übergriffe, die in der Nachwendezeit außerhalb der urbanen Zentren verübt wurden und die nur durch zähe Recherchearbeit in Medien- und Gerichtsarchiven ans Tageslicht kommen werden, aus­zu­gehen. Im Januar 2020 orga­ni­sierten Engagierte aus der Strausberger Gruppe „Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt“(BorG)[29] und der VVN-BdA Märkisch-Oderland[30] zum ersten Mal eine Kundgebung zum Gedenken an den ehe­ma­ligen Vertragsarbeiter Phan Văn Toản, der im Januar 1997 in Fredersdorf bei einem ras­sis­ti­schen Übergriff zunächst schwer ver­letzt wurde und im April des­selben Jahres an seinen Verletzungen ver­starb. Noch am selben Tag wurde der an der S‑Bahn-Station pro­vi­so­risch errichtete Gedenkort ver­wüstet, Plakate wurden abge­rissen und der Blumenschmuck zer­stört. Aus dem Wunsch heraus, zu einem wür­digen Gedenken an Phan Văn Toản und zu einer poli­ti­schen Einordnung der Tat bei­zu­tragen, gründete sich die „Gedenkinitiative Phan Văn Toản“. Wäre die Initiative nicht aktiv an kori­en­tation e.V. her­an­ge­treten, hätten wir ver­mutlich niemals von Phan Văn Toảns Tod erfahren. Sein Fall wurde in einem Bericht des Politikwissenschaftlers und Historikers Christof Kopke (Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin) mit dem Titel „Überprüfung umstrit­tener Altfälle Todesopfer rechts­extremer und ras­sis­ti­scher Gewalt im Land Brandenburg seit 1990“[31] und von der Opferperspektive e.V. in Brandenburg auf­ge­griffen und auf deren Website in deren Gedenkkalender „Kein schöner Land. Todesopfer rechter Gewalt in Brandenburg“ mit­be­rück­sichtigt.[32] Bisher sind leider nur wenige bio­gra­fische Informationen über Phan Văn Toản bekannt. Er hatte eine Partnerin in Deutschland und ver­mutlich noch Familie in Vietnam. Der Mord an ihm muss in den Kontext des gesell­schaft­lichen und poli­ti­schen Klimas der soge­nannten „Baseballschlägerjahre“ ein­ge­ordnet werden. Eine größere Anzahl der ehe­ma­ligen viet­na­me­si­schen Vertragsarbeiter*innen, die sich ent­schieden hatte, nach der Wiedervereinigung in Deutschland zu bleiben, durch­lebte zwi­schen 1989 und 1997 eine Zeit der Prekarität und beruf­lichen Unsicherheit, da sie aus den Betrieben, für die sie staatlich ange­worben worden waren, ent­lassen wurden. Viele von ihnen erhielten erst 1997 mit der zweiten Bleiberechtsregelung im deut­schen Ausländergesetz eine recht­liche Grundlage für einen lang­fris­tigen Aufenthaltsstatus und somit eine Arbeitserlaubnis für den regu­lären Arbeitsmarkt. Diese Prekarität, die bei­spiels­weise auch Phan Văn Toản dazu zwang, seinen Lebensunterhalt mit infor­mellen Gelegenheitsjobs wie Zigarettenverkauf an S‑Bahnhöfen zu bestreiten, stellte damals unfrei­willig die Lebensrealität einer Vielzahl von Menschen dar. Die Markiertheit als „asia­tisch“ und BPoC ver­stärkte die Vulnerabilität dieser Menschen im öffent­lichen Raum. Der Zwang, sich täglich stun­denlang an öffent­lichen Orten auf­zu­halten, mit dem Gefühl, sich ange­sichts der großen Häufigkeit von Überfällen durch Neonazis seiner phy­si­schen und emo­tio­nalen Unversehrtheit nicht sicher sein zu können, muss eine große Belastung in der dama­ligen Zeit dar­ge­stellt haben. Zeitzeug*innen betonen jedoch, dass sie sich nicht aus­schließlich als Opfer der dama­ligen Verhältnisse sehen, sie hätten ihr Leben durch­ge­zogen und auch gefeiert, Freundschaften auf­gebaut und Familien gegründet. Die Angst, ins­be­sondere nach Anbruch der Dunkelheit ange­griffen zu werden, hätte sie jedoch jah­relang begleitet. Dieses Lebensgefühl wird bei­spiels­weise auch in Angelika Bach Ngoc Nguyens Film „Bruderland ist abge­brannt“ (1992)[33] beschrieben. Auch Mai Phuong Kollath, eine Aktivistin und Zeitzeugin des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen, berichtete Ähnliches auf der Diskussionsveranstaltung „Remember, Resist, Unite“[34].

Bemühungen der Gedenkinitiative Phan Văn Toản, Unterstützung von lokalen Politiker*innen für die Errichtung bei­spiels­weise einer Gedenktafel zu erhalten, sind bisher mehr­heitlich im Leeren ver­laufen. Auch Pfarrer*innen und andere gesell­schaftlich ein­fluss­reiche Personen sind einer Einladung zu einer Vernetzungsveranstaltung nicht gefolgt. Große und aus­dau­ernde Hilfsbereitschaft wurde nur von einer ein­zigen Politikerin gezeigt, die sich aus der Motivation, der lokalen AfD Stimmen abzu­ziehen, zur Wahl gestellt hat, und einem BPoC-Politiker aus einem kleinen Nachbarort. Ein Vertreter der Hamburger Initiative Halskestraße schätzte in einem digi­talen Vernetzungstreffen, dass es die Gedenkinitiative für Phan Văn Toản vor­aus­sichtlich min­destens sechs bis acht Jahre kosten wird, um eine Gedenktafel durch­setzen zu können. Der Prozess, sich Wissen über den Fall anzu­eignen, in den Austausch mit den Hinterbliebenen und der viet­na­me­si­schen Community zu treten, Unterstützung auf der lokalen poli­ti­schen Ebene zu finden und eine größere Öffentlichkeit zu dem Fall zu erzeugen, das alles brauche eben Zeit. Am 27. September 2021 orga­ni­sierte die Gedenkinitiative Phan Văn Toản eine öffent­liche Diskussionsveranstaltung in einer umge­bauten Scheune, nicht weit vom Tatort, an der rund 40 Personen teil­nahmen. Es dis­ku­tierten der ehe­malige Bürgermeister von Altlandsberg Ravindra Gujjula, die Geschäftsführerin der Opferperspektive e.V. Judith Porath, Christop Kopke von der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, die Journalistin und Filmemacherin Angelika Bach Ngoc Nguyen und für die Gedenkinitiative Samuel Signer und Kimiko Suda. Unter den Teilnehmenden der Veranstaltung fielen vor allem eine ältere Frau auf, die gemeinsam etwas gegen die vor Ort aktiven Reichsbürger unter­nehmen wollte, und ein Fredersdorfer, der sagte, er sei dort zur Zeit des Mordes ein Teenager gewesen, er würde sich an den Fall erinnern und würde ein Denkmal unter­stützen. Ein ehe­ma­liger Gemeinderat betonte, dass er nichts gegen die Arbeit der Gedenkinitiative ein­zu­wenden hätte, er wolle sie aber auch nicht aktiv unter­stützen, er wolle lieber neutral bleiben.

Die Gedenkinitiative Phan Văn Toản als Cross-Community-Vorhaben ermög­licht einen Lernprozess zwi­schen unter­schied­lichen Menschen – die Mitglieder der VNN-BDA Märkisch-Oderland lernen etwas über Asiatisch-Deutsche Perspektiven auf die „Baseballschlägerjahre“, deren Berliner Mitglieder von kori­en­tation lernen etwas über die Alltagsrealität und poli­ti­schen Verhältnisse in Märkisch-Oderland. Ohne die Unterstützung anti­fa­schis­ti­scher Netzwerke könnte kori­en­tation bei­spiels­weise keine Gedenkkundgebung für Phan Văn Toản an der S‑Bahn Fredersdorf durch­führen. Der Risikofaktor, als weit sichtbare größere Gruppe von Asiatischen Deutschen und Asiat*innen ange­griffen zu werden, wäre aktuell immer noch zu groß, während das Vertrauen in die Polizei, die Sicherheit zu gewähr­leisten, zu gering ist. Und ohne die Vorarbeit von Christof Kopke und Judith Porath, beides Zeitzeug*innen der „Baseballschlägerjahre“ und anti­fa­schis­tisch poli­tisch aktiv in der Region seit den 1990er Jahren, wäre der Mord an Phan Văn Toản für nach­fol­gende Generationen unsichtbar geblieben.

Fazit und Ausblick

Es bedarf einer spe­zi­fi­schen Aufarbeitung Asiatisch-Deutscher indi­vi­du­eller Schicksale und kol­lek­tiver Geschichte(n) und eines Ausbaus der Asiatisch-Deutschen Erinnerungskultur aus den Communities heraus für die Communities und in die weißen Institutionen und die all­ge­meine Gesellschaft hinein. Daneben sind Cross-Community-Allianzen erfor­derlich, ins­be­sondere auch außerhalb der urbanen Zentren, um eine nach­haltige öffent­liche Gedenkpraxis durch­setzen zu können. Um in einem Ort wie Fredersdorf eine umstrittene Gedenktafel auf­stellen zu können, bedarf es zunächst erst einmal per­sön­licher lokaler Beziehungen, Vertrauen und Einflussnahme, die Außenstehende nicht so leicht in kurzer Zeit oder grund­sätzlich nicht auf­bauen können. Gleichzeitig brauchen die lokalen Aktivist*innen Verstärkung von außen, um spe­zi­fi­sches Wissen über die Asiatisch-Deutsche Geschichte und Perspektiven zu bekommen, und auch generell, um den Mut ange­sichts der man­gelnden Unterstützung vor Ort nicht zu ver­lieren. Auf der insti­tu­tio­nellen Ebene bedarf es der Entwicklung einer erwei­terten juris­ti­schen Definition davon, was ein ras­sis­tisch moti­vierter Mord ist, die eine gezielte staat­liche Verfolgung von „Hate Crimes“ ermög­licht. In den Fällen, in denen es gelungen ist, einen Gedenkort zu errichten, besteht oftmals das Problem der Zerstörung und Vandalisierung der Gedenkorte[35], d.h. mit der Errichtung ist der Prozess kei­neswegs abge­schlossen, sondern es muss darüber hinaus ver­stärkt Öffentlichkeitsarbeit gemacht werden und Schutzvorkehrungen müssen erar­beitet werden. Der Prozess des Einschreibens einer historisch-informierten und ras­sis­mus­kri­ti­schen Perspektive auf Morde, Pogrome und Übergriffe im deut­schen Alltag in den öffentlichen-medialen Diskurs ist lange noch nicht voll­endet – bezie­hungs­weise der Prozess ist ohne Abschluss zu ver­stehen, solange wir nicht sicher sein können, dass im öffent­lichen Raum keine ras­sis­ti­schen Übergriffe mehr pas­sieren werden.

Wir hoffen, dass ihr bei der nächsten Gedenkkundgebung in Fredersdorf für Phan Văn Toản dabei sein werdet – 2022 jähren sich im Januar und im April der Übergriff und sein Todestag zum 25. Mal! Aktuelle Informationen zur Arbeit der Gedenkinitiative findet ihr auf der Website[36] der Initiative.

Referenzen

ak wantok (Hg.) (2014): Antifa Gençlik. Eine Dokumentation (1988–1994), Münster: Unrast Verlag.

Choi, Sun-ju / Berner, Heike (Hg.) (2006): Zuhause. Erzählungen von deut­schen Koreanerinnen, Assoziation A.

Dennis, Mike (2017): Vietnamesische Migration in den 1980er Jahren: Arbeiten in einem kom­mu­nis­ti­schen Paradies, in: Kocatürk-Schuster et al. (2017): unsichtbar. Vietnamesisch-Deutsche Wirklichkeiten, DoMiD, S. 78–97.

Foroutan, Naika (2019): Die post­mi­gran­tische Gesellschaft. Ein Versprechen der plu­ralen Demokratie, Bielefeld/Berlin: transcript.

Goel, Urmila (2013): „ ‚von unseren Familien finan­ziell unab­hängig und weit weg von der Heimat‘ Eine eth­no­gra­phische Annäherung an Migration, Geschlecht und Familie“ in: Thomas Geisen, Tobias Studer und Erol Yildiz (Hrsg.) (2013), Migration, Familie und soziale Lage – Beiträge zu Bildung, Gender und Care, Wiesbaden: Springer VS, 251–270.

Jänicke, Christin / Paul-Siewert Benjamin (Hg.)(2017): 30 Jahre Antifa in Ostdeutschland. Perspektiven auf eine eigen­ständige Bewegung, Verlag Westfälisches Dampfboot

Atsushi Kataoka / Regine Mathias / Meid u. a. (Hg.)(2012), „Glückauf“ auf Japanisch. Bergleute aus Japan im Ruhrgebiet. Essen, Klartext.

Langer, Bernd (2016): Antifaschistische Aktion: Geschichte einer links­ra­di­kalen Bewegung, Unrast Verlag.

Lee, You-Jae (Hg.)(2021): Glück Auf! Lebensgeschichten korea­ni­scher Bergarbeiter in Deutschland, iudicium.

Lierke, Lydia / Perinelli, Massimo (Hg.)(2020):Erinnern stören. Der Mauerfall aus migran­ti­scher und jüdi­scher Perspektive, Verbrecher Verlag.

Piesche, Peggy (Hg.)(2020): Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost, Verlag Yilmaz Günay.

Weiss, Karin (2017): Vietnamesische „Vertragsarbeiter*innen“ der DDR seit der deut­schen Wiedervereinigung, in: Kocatürk-Schuster et al. (2017): unsichtbar. Vietnamesisch-Deutsche Wirklichkeiten, DoMiD„ S. 111–125.


[1] Zum Begriff „post­mi­gran­tisch“ siehe Foroutan 2019.

[2] Siehe bei­spiels­weise die Auftaktveranstaltung der Dekoloniale: https://www.youtube.com/watch?v=s683I-d2s6w, abge­rufen am 20.11.2021.

[3] Siehe bei­spiels­weise Informationen über „Stolpersteine“ für Schwarze Deutsche https://taz.de/Stolpersteine-fuer-Schwarze-Deutsche/!5791607/, und Chines*innen in Hamburg https://www.stolpersteine-hamburg.de/index.php?&MAIN_ID=7&p=78&BIO_ID=3087

[4] Der Begriff „Baseballschlägerjahre“ wurde vom Autor und Journalisten Christian Bangel als Hashtag in den sozialen Medien eta­bliert und über den medialen Kontext hinaus auf­ge­griffen. Bangel wuchs in der Nachwendezeit als Jugendlicher in Frankfurt an der Oder auf, und wählte den Begriff, um auf die Alltäglichkeit der bru­talen Gewalt von Neonazis auf­merksam zu machen. Dieser Hashtag wird in den sozialen Medien über die mehr­teilige ARD-Reportage unter diesem Namen hinaus, von Leuten mit Erinnerungen an die 1990er Jahre verwendet.

[5] Beispielsweise das FHXB Museum, das MARKK, die Stiftung Berliner Mauer und der Fachbereich Kultur Steglitz-Zehlendorf (Schwartzsche Villa).

[6] Beispielsweise Dr. Manuela Bauche (FU Berlin) mit dem Projekt »Geschichte der Ihnestr. 22« und Prof. Dr. Iman Attia (ASH Berlin) mit dem Projekt „Verwobene Geschichten“ (https://www.verwobenegeschichten.de/ ).

[7] Beispielsweise die Künstlerin Lizza May David: http://www.lizzamaydavid.com/

[8] https://gedenkenmoelln1992.wordpress.com/2019/12/16/kein-schweigen-kein-vergessen/

[9] https://vimeo.com/ondemand/diewahrheitliegtrostock, https://lichtenhagen-1992.de/pogrom/

[10] https://www.hoyerswerda-1991.de/nach-1991/gedenkkultur.html

[11] https://hafenstrasse96.org/

[12] https://www.korientation.de/interviewreihe-migrantifa-hessen/

[13] Siehe die Dokumentation „Baseballschlägerjahre: Ich bleibe – Folge 6“ unter fol­gendem Link: https://www.youtube.com/watch?v=t5ixVow-SvY

[14] https://www.bpb.de/mediathek/305232/duvarlar-mauern-walls

[15] https://www.verwobenegeschichten.de/themen/film-die-mauer-ist-uns-auf-den-kopf-gefallen

[16] http://www.inidu84.de/

[17] http://burak.blogsport.de/

[18] https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/

[19] https://initiative12august.de/

[20] https://inihalskestrasse.blackblogs.org/

[21] https://www.nsu-watch.info/

[22] https://dubisthalle.de/tag/terroranschlag

[23] https://www.bildungsinitiative-ferhatunvar.de/

[24] https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/213-todesopfer-seit-1990-ein-trauriger-rueckblick-auf-30-jahre-rechte-gewalt-64777/.

[25] https://www.nytimes.com/2021/03/19/us/atlanta-shooting-victims-spa.html

[26] https://www.korientation.de/demo-28–03-2021-berlin-atlanta-asian-diaspora-germany/

[27] https://www.korientation.de/atlanta-offener-brief/

[28] https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Factsheet_Anti_Asiatischer_Rassismus_Final.pdf

[29] https://horte-srb.de/borg/

[30] https://mol.vvn-bda.de/

[31] Es gibt eine präzise Beschreibung des Tatvorgangs hier. Diese hat jedoch der Autorin dieses Beitrags die Tränen in die Augen getrieben, daher hier eine Triggerwarnung (ab S.100): https://www.mmz-potsdam.de/files/MMZPotsdam/Bilder_Meldungen/2015/Forschungsbericht%2006_2015_Botsch.pdf

[32] https://www.todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de/victims-van-toau-phan.php

[33] Siehe den Film unter: https://www.youtube.com/watch?v=2B3WDt6MkZk

[34] Mehr Informationen über die Veranstaltung unter: https://www.korientation.de/remember-resist-unite-diskussion-23092021/

[35] Siehe bei­spiels­weise diese Fälle der Zerstörung von Gedenkorten für Opfer ras­sis­ti­scher Gewalt: https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/mit-hakenkreuz-und-afd-schriftzug-gedenkstaette-fuer-burak-bektas-in-berlin-neukoelln-erneut-beschaedigt/27375692.html, https://www.belltower.news/anti-asiatischer-rassismus-gedenktafel-fuer-chinesische-ns-opfer-in-hamburg-angegriffen-und-beschmutzt-98467/, https://www.aachener-zeitung.de/nrw-region/gedenkort-fuer-opfer-von-hanau-in-koeln-zerstoert_aid-56387783, https://www.welt.de/politik/deutschland/article201795384/NSU-Die-meisten-Mahnmale-fuer-Opfer-werden-geschaendet.html, abge­rufen am 23.11.2021.

[36] Siehe Website der Initiative (noch im Aufbau): https://phanvantoan.de/,