Am 16.02.2023 erschien im Lokalteil der Süddeutschen Zeitung der Artikel „Die falschen Chinesen zu Dietfurt“ von Lisa Schnell. Für diesen Artikel wurde sehr kurzfristig der korientation e.V. um ein Interview angefragt und durch unser Mitglied Dr. Kien Nghi Ha beantwortet. Diese Berichterstattung zeigt lehrbuchartig auf, wie weite Teile der deutschen Medien weiterhin mit rassistischen Phänomenen sowie rassismuskritischen Ansätzen umgehen. – womit sich auch der folgende Kommentar unseres Vorstandstandmitglied Su-Ran Sichling beschäftigt, der auch als Offener Brief an die Redaktion der SZ geschickt wird.
Der SZ-Artikel verschwand kurz nach seiner Veröffentlichung hinter einer Paywall.
Beobachtungen zu wiederkehrenden Argumentationsmustern in deutschen Medien
Äußern sich weiße Journalist*innen deutscher Medien über rassistische Phänomene – seien es Debatten um rassistische Sprache in Kinderbüchern oder umstrittene Karnevalspraktiken wie im Artikel „Die falschen Chinesen von Dietfurt“ von Lisa Schnell – zeigen sich die immer gleichen Argumentationsmuster. Dass dabei journalistische Genauigkeit auf der Strecke bleiben, ist leider ebenso oft zu beobachten.
Dieser Kommentar möchte nicht erneut beurteilen, ob in Dietfurt rassistische Stereotype reproduziert werden. Vielmehr möchte er die medialen Argumentationsmuster in den Blick nehmen, die bemerkenswert oft zu beobachten sind, wenn deutsche (weiße) Medien sich zu Rassismuskritik äußern.
Zuerst – so der populistische Fahrplan der Journalist*innen – müssen gesellschaftliche Fronten gezogen werden: Zwischen denen, die lachen und das alles nicht so ernst nehmen (müssen) und all den anderen – die Schreiberin Lisa Schnell weiß anscheinend selbst nicht so genau, wer überhaupt etwas gegen den „Riesenspaß eines Chinesenfaschings“ haben könne: Vielleicht, so vermutet die Schreiberin, ließen sie sich unter den größten gemeinsamen Nenner des Gendersternchens subsumieren. Gerne werden in Artikeln zu Rassismusvorwürfen alle politischen Kämpfe um Feminismus, Gendergerechtigkeit, Antisemitismus und Antirassismus[1] in einen Topf geworfen. Dabei geht es mitnichten darum, den Kritiker*innen mehr Gewicht oder Stimme zu geben – vielmehr sollen die spezifischen Forderungen der einzelnen Kämpfe entkräftet werden. So genau will es eine weiße Dominanzgesellschaft aber auch nicht wissen, worum im Einzelnen gekämpft wird. Des Öfteren werden hier auch Begrifflichkeiten verwechselt, um dann in Folge, Praktiken der weißen Mehrheitsgesellschaft doch positiv interpretieren zu können, wie es beispielsweise Ewald Hetrodt in seinem Artikel „Die Angst vor dem schwarzen Mann“[2] vornimmt. Hier wird „Blackfacing“ ersetzt durch den Begriff der kulturellen Aneignung, der – laut Hetrodt – eine stärkere Differenzierung erlaubt, um dann in Folge auch vermeintlich positive Beispiele von kultureller Aneignung zu nennen. Was „Blackfacing“ mit kultureller Aneignung zu tun hat, erschließt sich der Schreiberin dieses Artikels allerdings nicht.
Leider kann sich die Schreiberin Schnell nicht einer gewissen Parteilichkeit verwehren. Interviewpartner*innen wie der Kultur- und Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha werden als größtmögliche Krach[-macher] angekündigt, denen man aber zu Beginn des Artikels dann lieber doch nicht das Wort geben möchte. „Angemessen“ – so der Artikel – ist es dann eher, zuerst einen Befürworter des Karnevals sprechen zu lassen. Neben der parteiischen Wortwahl hat Schnell aber auch eine grundlegende Sache missverstanden: Geht es der weißen Mehrheit bei Rassismusfragen meist darum, die eigene Meinung gelten zu lassen und dass man sich laut Autorin einfach „an einen Tisch setzen sollte“, so stellt sich bei Angehörigen einer diskriminierten Minderheit oft die Frage nach Rassismus als strukturelles Problem. Oft würden sich von Rassismus betroffene Menschen lieber über das Phänomen Rassismus äußern als über persönliche Erfahrungen. Einer weißen Mehrheit ist es anscheinend aber auch nach geduldigem Erklären (Kien Nghi Ha hat es bewundernswerter Weise wieder einmal versucht) nicht möglich nachzuvollziehen, dass die Benachteiligung in Deutschlands Institutionen, Gesetzen, Schulen und Behördenroutinen passiert. Und dass dahinter oft keine individuelle, böse Absicht stecken muss, sich also Jede*r immer wieder versichern kann, dass man ja selbst niemals rassistisch handeln würde.
Noah Sow schreibt in diesem Zusammenhang, dass weiße Deutsche von Geburt an u.a. das Privileg haben, jede andere Kultur nachäffen oder sich in Teilen aneignen zu können. Dass sie auch bestimmen dürfen, inwiefern die Errungenschaften und Meinungen aller Menschen, die nicht weiß sind, zählen.
Der Artikel von Lisa Schnell offenbart einmal wieder die abwertenden medialen Praktiken, die die bestehenden Hierarchien und soziokulturellen Ausschlüsse verfestigen. Kien Nghi Ha kommt an einer anderen Stelle zu dem Schluss, dass aufgrund dieser weißen medialen Deutungshoheit vielen Menschen mit einer Migrationsbiographie öffentliche Sichtbarkeit verwehrt bleibt. Zwar werden sie mittlerweile gerne von Journalist*innen interviewt, aber nur um den humorlosen „Krachmacher*innen“ mit einer Gegenstimme – dem „einzig echten Chinesen von Dietfurt“ – im Nachgang zu beweisen, dass das, was man tut, in keinem Fall rassistisch ist. Dass sich allerdings zu allem und jedem immer eine Stimme (die, eventuell auch sozial, ökonomisch etc. abhängig ist von der Mehrheitsmeinung) finden lässt, um die Kritik an der Sache zu entkräften, dürfte eigentlich klar sein.
Dass Artikel dieser Art durch die Gegenüberstellung gesellschaftlicher Fronten oft sehr bewusst einen Aufschrei („…und sie wird wieder losgehen, die Debatte um den Dietfurter „Chinesenfasching“) provozieren wollen, um somit Aufmerksamkeit zu generieren, scheint anscheinend in Krisenzeiten von Printmedien immer wieder das heilsversprechende Mittel gegen eine schwindende Leser*innenschaft. Journalist*innen dieser Medien gehen hier von tragenden Teilen der Gesellschaft aus, die mehrheitlich weiß ist. Die, so Hetrodt in oben genanntem Artikel, „registrieren, dass das Normale plötzlich skandalisiert und das Vertraute aus dem öffentlichen Leben gedrängt wird“. Weiter sagt er: „Und sie [die tragenden Teile der Gesellschaft, Anm.] schauen auf das Bild, das im öffentlichen Diskurs von dem Staat gezeichnet wird, den sie mittragen und mitfinanzieren.“
Hier zeigt sich, dass Medien ein bestimmtes Weltbild konstruieren und damit auch verbundene Normen- und Wertesysteme. Doch: In einer Gesellschaft in der mittlerweile beinahe 30 % der Menschen einen sogenannten Migrationshintergrund[3] haben (Tendenz steigend) stellt sich die Frage: Welche medial dargestellte Welt bleibt also heute noch für den Großteil der Menschen nachvollziehbar? Und: Wer sind die tragenden Teile der Gesellschaft?
Die Autorin Su-Ran Sichling ist Vorstandsmitglied des korientation e.V.
[1] Siehe auch der Artikel „Die kleine Hexenjagd“ von Ulrich Greiner, in: Die ZEIT, 17.01.2013, https://www.zeit.de/2013/04/Kinderbuch-Sprache-Politisch-Korrekt?
[2] Siehe auch der Artikel „Die Angst vor dem schwarzen Mann.“ von Ewald Hetrodt, in: Die FAS, 19.02.2023, https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/blackfacing-an-karneval-mohr-bei-fastnacht-in-hessen-18686690.html
[3] 2021 lebten in Deutschland rund 22,6 Millionen Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund – das entspricht 27,5 Prozent der Bevölkerung (2020 lag der Anteil bei 26,7 Prozent), Quelle: Statistisches Bundesamt.