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Bild: Laura Muenker

Dan Thy Nguyen, der sich bisher vor allem als Theatermacher, Festivalleiter und Schauspieler einen Namen gemacht hat, hat mit dem Band „Über Wasser und Tote“ ein sehr per­sön­liches und poe­ti­sches Buch vor­gelegt. Das Buch ist eine kleine, aber feine und ein­drück­liche Gedichtsammlung, die vier Abschnitte umfasst. Es hat ins­gesamt 67 Seiten und beginnt mit einem berühmten Zitat des bud­dhis­ti­schen Lehrmeisters Thích Nhất Hạnh: „Menschen fällt es schwer, ihr Leiden los­zu­lassen. Aus Angst vor dem Unbekannten bevor­zugen sie das ver­traute Leiden“. Weitere Kapitel werden durch Zitate von Novalis („Wir sind nichts, was wir suchen, ist alles“) und Martin Luther King („Der alte Grundsatz ‚Auge um Auge‘ macht schließlich alle blind“) ein­ge­leitet. Die Kapitel sind nach ihren Themen benannt: 1. „Boat Peoplezyklus“ (6–27), 2. „Über meine Mutter“ (28–37), 3. „Semra Ertan – Ein Gedichtzyklus in neun Bildern“ und 4. „Über die Reform des Theaters“ (54–67). Die ersten beiden Kapitel sind die per­sön­lichsten und behandeln Themen, die vielen Menschen in der viet­na­me­si­schen Diaspora sehr ver­traut sind, dar­unter eine breite Palette von Themen wie Krieg, Tod, Geschichte, Flucht, Erinnerung, Identität, fami­liäre Beziehungen, Exil und die Suche nach einer neuen Heimat, hier in Hamburg.

Die Kombination aus his­to­ri­schen, per­sön­lichen und kul­tu­rellen Bildern mit vietnamesisch-diasporischem Hintergrund wird mit einem Gefühl für die Lokalität und den poli­ti­schen Kämpfen anderer mar­gi­na­li­sierter Gemeinschaften ver­flochten. So erinnert der Autor an die türkisch-deutsche Arbeitsmigrantin und Dichterin Semra Ertan, die sich 1982 in Hamburg selbst in Brand setzte, um gegen den zuneh­menden Rassismus in Deutschland zu pro­tes­tieren. Ihr Werk war lange ver­gessen. Eine Sammlung ihrer Gedichte „Mein Name ist Ausländer“ wurde erst 2020 von dem linken Verlag edition ass­sem­blage ver­öf­fent­licht und erhielt dadurch etwas öffent­liche Anerkennung. In diesem Kapitel ver­wendet Dan Thy häufig Parallelen und Analogien, die unter­schied­liche Geschichten mit­ein­ander ver­binden – etwa indem er auf die poli­tische Selbstverbrennung des bud­dhis­ti­schen Mönchs Thích Quảng Đức 1963 in Saigon gegen den neo­ko­lo­nialen US-Krieg in Vietnam verweist.

Eine andere, sehr nahe lie­gende, wenn auch etwas anders gela­gerte Parallele taucht dagegen im Buch erstaun­li­cher­weise gar nicht auf und ver­dient des­wegen hier eine aus­führ­li­chere Erwähnung. Am 22. August 1980 wurden in der Hamburger Halskestrasse Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân von Rechtsextremisten ver­brannt. Beide wurden kurz zuvor von der Hansestadt aus Lagern in Malaysia aus­ge­flogen und als Boat People auf­ge­nommen. Obwohl Đỗ Anh Lân sogar in einer vom Hamburger Wochenblatt „Die Zeit“ gespon­serten Hilfsaktion her­geholt wurde, inter­es­sierten sich die Medien nach einer kurzen Meldung nicht mehr für diese Geschichte. Dieser Fall geriet auf diese Weise schnell in Vergessenheit und wurde erst 2012 im Zuge der Recherchen zum Hamburger NSU-Opfer Süleyman Taşköprü vom freien Journalisten Frank Keil wieder aus­ge­graben. Zwei Jahre später for­mierte sich vor Ort eine anti-rassistische Gedenkinitiative und lud mich zur ersten öffent­lichen Diskussionsveranstaltung ein, die zur ersten öffent­lichen Gedenkveranstaltung nach der Beerdigung aufrief. Erst 42 Jahre nach den Morden, und nach acht Jahren uner­müd­licher wie müh­se­liger Lobby‑, Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit lenkte die Stadtverwaltung endlich ein und ver­kündete 2022, dass der Abschnitt am Tatort in Châu-und-Lân-Straße umbe­nannt werden soll. Die Forderungen nach einer öffent­lichen Lern- und Gedenkstätte wurden dagegen bisher nicht erfüllt.

Dan Thy, dessen Eltern eben­falls als Boat People in der BRD ankamen, erinnert hier in anderer Weise an diese Hamburger Geschichte. Ein Gedicht, das in unter­schied­lichen Abwandlungen den Anfang und das Ende des Boat People-Zyklus umrahmt und in Handschrift auf dem Backcover auf­ge­druckt ist, fängt so an:

„An den Hamburger Landungsbrücken
hat jemand
ein bron­zenes Buch auf­ge­schlagen.
Ganz unscheinbar
steht es da
und sehnt sich danach
gesehen zu werden.“

Foto: privat

Eine Initiative ehe­ma­liger Boat People hat 2009 anlässlich des 30jährigen Jubiläums der Aufnahme den „Gedenkstein der Dankbarkeit gegenüber dem deut­schen Volk und den deut­schen Regierungen“ errichtet und im Beisein des dama­ligen Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble das Denkmal an den Hamburger Landungsbrücken ent­hüllt. Damals spielte weder Rostock-Lichtenhagen noch das Schicksal der ertrin­kenden Boat People im Mittelmeer eine Rolle. Selbst das Schicksal von Châu und Lân wurde aus­ge­blendet. Gegen Verblendung hilft nur die Kraft sich zu erinnern. Wichtig ist nicht nur an was und wie wir uns erinnern. Mindestens genauso wichtig ist, woran wir uns nicht erinnern.

Ein Gedichtband kann natürlich kein Geschichtsbuch ersetzen, aber als sub­jektive kul­tu­relle Verarbeitung ist „Über Wasser und Tote“ ein span­nendes und kraft­volles Kleinod. Es bleibt zu wün­schen, dass die vom deutsch-arabischen Lyriker Hassan Hasune El-Choly neu gegründete edition neje tieden, was soviel wie „neue Zeiten“ auf Friesisch heißt, nach diesem dop­pelten Debüt vom Autor und Verlag bald weitere Werke mit fri­schen Stimmen auflegt, die uner­hörte Geschichten erzählen. 

Kiek mol wedder in!

PS: Bestellt bitte direkt beim Verlag oder unter­stützt Eure lokalen Buchdealer.

Kien Nghi Ha wurde 1979 als Kind mit seiner Familie als Boat People auf­ge­nommen und wuchs im Märkischen Viertel in West-Berlin auf. Später stu­dierte er Politikwissenschaften und pro­mo­vierte in der Kulturwissenschaft. Er leitet den Arbeitsbereich Asian German Studies am Asien-Orient-Institut der Universität Tübingen. Aktuell edi­tiert er den Sammelband Asiatische Präsenzen in der Kolonialmetropole Berlin (Assoziation A, 2023) und schreibt am Essay Boat People – Vom schutz­wür­digen Flüchtling zur Zielscheibe des Anti-Asiatischen Rassismus für den Ausstellungskatalog „Alfredo Jaar – The Kindness of Strangers“ (2024) des Museums der Moderne Salzburg.

Im Erscheinen: Verwobene Geschichten in Hito Steyerls „Die leere Mitte“ (1998) aus Asiatisch-deutscher Perspektive. In: Ömer Alkin/Alena Strohmaier (Hg.): Rassismus und Film. Marburg: Schüren Verlag, 2023. Zur kolo­nialen Matrix des anti-Asiatischen Rassismus: Gelbe Gefahr, Unsichtbarkeit und Exotisierung. In: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) (Hg.): Rassismusforschung: Rassismen, Communities und anti­ras­sis­tische Bewegungen, Bd. 2, Bielefeld: tran­script 2023. Das Pogrom in Rostock-Lichtenhagen als insti­tu­tio­na­li­sierter Rassismus. In: Gudrun Heinrich/David Jünger/Oliver Plessow/Cornelia Sylla (Hg.): Perspektiven aus der Wissenschaft auf 30 Jahre Lichtenhagen 1992. Berlin: Neofelis 2023.

© Duc Ngo Ngoc
FilmVeranstaltungen

© Duc Ngo Ngoc

Veranstaltung zum Jahrestag „40 Jahre viet­na­me­sische Vertragsarbeiter*innen“ mit Kurzfilm-Screening, Audiospaziergang und anschlie­ßendem Gespräch im Haus der Demokratie und Menschenrechte.

1980 wurde das Regierungsabkommen zwi­schen der DDR und der Sozialistischen Republik Vietnam über die „zeit­weise Beschäftigung und Qualifizierung viet­na­me­si­scher Werktätiger in Betrieben der DDR“ geschlossen. Die Betonung lag auf dem Wörtchen „zeit­weise“, denn sie sollten sich auf keinen Fall im Gastland nie­der­lassen. Deshalb gab es viele amt­liche Einschränkungen im Leben der Vertragsarbeiter*innen, wie sie heute genannt werden. Für die ent­sen­deten Menschen war es dennoch das große Los: konnten sie doch ihrem bit­ter­armen, von Krieg und Boykott zer­störten Land ent­fliehen und ihre Familien daheim von dem Lohn in einem euro­päi­schen Industrieland unterstützen. 

Wie erging es ihnen in der DDR? Was bedeutete der Mauerfall für sie? Wie haben sich die Dagebliebenen ein neues Leben hier auf­gebaut? Wie geht es ihnen heute? Inzwischen ist eine neue Generation, die Kinder der Vertragsarbeiter*innen von damals, her­an­ge­wachsen. So manche von ihnen erzählen Geschichten aus ihrem Leben und dem ihrer Eltern, von Gefühlen des Fremdseins, langen Arbeitstagen, von Erfolgen, Niederlagen und auch von Konflikten zwi­schen den Generationen. Manchmal erzählen sie auch mit ihnen zusammen.

Der Abend im Haus der Demokratie und Menschenrechte prä­sen­tiert drei dieser Geschichten in zwei Kurzfilmen und einem Audio-Spaziergang. Anschließend Gespräch mit den Filmemacher*innen Duc Ngo Ngoc, Thanh Nguyen Phuong und der Protagonistin Thu Huong Pham Ti.

Moderation: Angelika Nguyen

Programm:
Sorge 87“ (2017) 10‘, Regie: Than Nguyen Phuong
„Gehrenseestraße 1“ (2020) 6’, Regie: Duc Ngo Ngoc
„Audiospaziergang“ (2020) 23‘, Regie: Duc Ngo Nogoc

Wann: Montag, 12.10.2020 von 18 – 21 Uhr
Wo: Robert-Havemann-Saal im Haus der Demokratie und Menschenrechte, Greifswalder Straße 4, 10405 Berlin

Die Veranstaltung ist eine Kooperation mit dem Haus der Demokratie und Menschenrechte.